Kamala Harris ist nicht die erste. Auch Hillary Clinton und Shirley Chisholm*) waren nicht die ersten. Schon vor 152 Jahren bewarb sich eine Frau um die amerikanische Präsidentschaft – und was für eine.
Sie war Prostituierte, Spiritistin und enge Gefährtin des reichsten Mannes von Amerika. Sie war die erste Brokerin an der Wall Street, Journalistin und Verlegerin.
Vor allem jedoch war sie eine brillante Rednerin, kämpfte für die Rechte der Frau, gegen die Sklaverei und die Todesstrafe. Ein bisschen Sozialistin und Anarchistin war sie auch.
Sie sagt, Frauen hätten das Recht, mehrere Liebhaber zu haben. Und: Sie kandidiert 1872 für die amerikanische Präsidentschaft.
Skandale, Geister, Sex
An Heiligabend im Jahr 1837 findet in Homer, einem Nest im Bundesstaat Ohio, ein Erweckungsspektakel statt. Annie Claflin, eine exzentrische Frau, lobt den Herrn, schreit zum Himmel und fällt in Ekstase. Da kommt ihr betrunkener Mann, zieht ihr den Rock hoch – und so wird Victoria gezeugt.
Das Mädchen aus mausearmen Verhältnissen schüttelt später das prüde und verlogene Amerika wach. Sie polarisiert, wird vom Präsidenten empfangen, landet im Gefängnis, gründet eine eigene Partei, provoziert Skandale, konsultiert Geister und ruft aus: Nur guter Sex macht das Leben lebenswert. Sie klagt moralisierende Männer an, die andere mit Schmähungen überschütten, aber fast täglich ins Bordell gehen.
Spiritismus
Am 23. September 1838 wird Victoria geboren. Nur drei Jahre geht sie zur Schule, ab und zu. Der Vater, ein Kleinkrimineller, schlägt und vergewaltigt das hübsche Mädchen. Der Bürgerkrieg hat in jeder Familie seine Opfer gefordert. So wuchs das Bedürfnis, mit den toten Vätern oder Söhnen in Verbindung zu treten. Etwa sieben Millionen Amerikaner bekannten sich damals zum Spiritismus, vor allem Frauen. Auch Victoria Claflin steht in Kontakt mit Geistern.
Um der Familienhölle zu entfliehen, heiratet sie mit 15 Jahren den 21-jährigen Arzt Canning Woodhull. Er ist Alkoholiker und treibt sich mit Prostituierten herum. Bald schon lässt sich Victoria scheiden. Als Victoria Woodhull geht sie in die Geschichte ein.
Mehr als Salben und Wässerchen
Da und dort verdient sie jetzt ihr Geld als Heilerin und Hellseherin. Ihre jüngere Schwester Tennessee (Tennie) unterstützt sie, mischt seltsame Salben und Wässerchen – und belügt die Kundschaft. Doch die beiden jungen Frauen bieten ehrbaren Männern mehr als Salben und einen Blick in die Zukunft.
In St. Louis lernt Victoria, die ihr Leben lang wechselnde Liebhaber hat, den 31 Jahre alten James Blood kennen, einen wohlhabenden Richter, den sie heiratet. Er, ein Intellektueller, kämpft für politische Reformen und für das Wahlrecht der Schwarzen und Frauen.
Der reichste Mann Amerikas
In New York tauchen Victoria und Tennessee in den Bordellen der Fifth Avenue auf. Für ehrenwerte Männer und Polizisten gehörte es damals zum guten Ton, sich Dirnen zu halten. Die gleichen Männer sind es dann, die die Frauen moralisch verunglimpfen und Geld von ihnen verlangen. Gegen diese Doppelmoral kämpft Victoria ein Leben lang.
Mit ihrem Mann kommt sie in Kontakt mit Leuten der Reformbewegung, die sozialistische, freidenkerische und feministische Ideen vertreten.
Jetzt macht die Geisterbeschwörerin Victoria Bekanntschaft mit Cornelius Vanderbilt. Er ist der reichste Mann Amerikas und besitzt nicht nur die grösste Schiffsflotte, riesige Grundstücke und zwölf Eisenbahnlinien – er baut auch die Grand Central Station in New York. Auch er ist Spiritist. Mit Tennessee geht der ältere Herr ins Bett, und Victoria ist für die Geister zuständig. Die beiden jungen Frauen, die er gut bezahlt, gehören nun zu seiner Familie.
Informationen aus den Bordellen
In den Bordellen treiben sich viele Männer der höheren Gesellschaft, vor allem auch der Wall Street, herum. Und diese oft etwas einsamen Gentlemen erzählen den Dirnen von ihren Geschäftsvorhaben und plaudern da einiges aus. Victoria und Tennessee spitzen die Ohren.
So kommt es, dass Victoria dem Millionär Vanderbilt rät, riesige Mengen Gold zu kaufen. Das tut er, andere folgen ihm, und der Goldpreis steigt und steigt. Doch jetzt erfährt Victoria «von den Geistern», dass die Blase demnächst platzt. Sie rät Vanderbilt, sofort alles zu verkaufen. Der tut es. Und tatsächlich, am «schwarzen Freitag» platzt die Blase. Vanderbilt ist um 1,3 Millionen Dollar reicher. Die Hälfte davon, 650’000 Dollar, schenkt er seiner geliebten Victoria.
«Petticoats among bulls and bears»
Vanderbilt ist so begeistert, dass er den beiden jungen Damen hilft, an der Wall Street eine eigene Brokerfirma zu errichten. Die Zeitungen berichten fasziniert, auch die Broker sind wohlwollend erstaunt. «Unterröcke zwischen Bullen und Bären» titelt eine Zeitung.
Schon früh fordert Victoria Woodhull ein grösseres Engagement der Frauen. «Das ganze Gerede über Frauenrechte ist dummes Geschwätz. Frauen haben jedes Recht, sie müssen es nur ausüben.» Für sie geht es nicht darum, ob Frauen wählen dürfen, sondern, ob sie wählen wollen. «Dass Frauen Geld verdienen können, ist ein besserer Schutz gegen Tyrannei und Brutalität von Männern, als dass sie wählen können», sagt sie.
Die Frauenrechtlerinnen, von denen es damals schon viele gab, wissen nicht, was sie von Victoria halten sollten – und zerstreiten sich.
«Victory for Victoria»
Im April 1870 lanciert Victoria einen provokativen Coup. Um sich Gehör zu verschaffen, kündigt sie in einer Annonce im «New York Herald» ihre Präsidentschaftskandidatur an. Zwar haben Frauen damals weder das Wahlrecht, noch dürfen sie gewählt werden. Zudem wäre Victoria zu jung für eine Kandidatur, da nur Bewerber ab 35 Jahren zugelassen sind. All das kümmert sie nicht.
Schon laufen viele Frauen gegen sie Sturm, unter anderem Harriet Beecher Stowe, die Autorin von «Onkel Toms Hütte». Die weiblichen Tugenden könnten verloren gehen, sagt sie, wenn Frauen in den männlichen Teil der Gesellschaft vordringen. Viele denken so. Doch der «Herald» setzt sich mit der Schlagzeile «Victory for Victoria» für sie ein.
Frauen müssten mehr sein als Republikaner oder Demokraten. Die Republikaner seien korrupt und die Demokraten hätten die Sklaverei verteidigt. Frauen müssten ein Sauerteig im politischen System sein, um die Politik zu reinigen.
«Das wird ihr Stuhl sein»
Um weiter bekannt zu werden, gründet sie eine eigene Wochenzeitung, die «Woodhull and Claflins Weekly» mit Victoria und Tennessee als Herausgeberinnen. Das Blatt packt heisse Eisen an und deckt auf, wie Polizisten Prostituierte nötigen, ausbeuten und ihre Dienste in Anspruch nehmen. Schon bald reissen sich die New Yorker die Zeitung aus den Händen. Karl Marx, der ein Exemplar erhält, spricht von einer «hochinteressanten Zeitung».
Victoria gelingt es sogar, vor dem Rechtsausschuss des Kongresses ein Plädoyer für das Frauenstimmrecht vorzutragen. Kurz darauf wird sie zu einer Audienz bei Präsident Ulysses Grant eingeladen. Er empfängt sie freundlich, zeigt auf den Präsidentenstuhl und sagt: «Eines Tages wird das ihr Stuhl sein.»
Freie Liebe
Zu Tausenden strömen die Menschen zu ihren Vorträgen. Das Publikum reagiert meist euphorisch. Zeitungen loben ihre persönliche Präsenz, ihre Schönheit, ihre Augen, ihre Stimme und ihren «magnetischen Einfluss», ihr Charisma.
Sie kämpft gegen die Gesetzesflut. Staatliche Gesetze sollten nur verhindern, dass Menschen ihre Freiheit auf Kosten anderer missbrauchen. Alles darüber hinaus sei ein Eingriff in die Freiheitsrechte. Die Regierung dürfe nicht das Zusammenleben von Mann und Frau reglementieren.
Immer wieder plädiert sie für die «freie Liebe». Die Ehe sei in den meisten Fällen eine Zwangsinstitution und mache die Menschen unglücklich. Jeder und jede sollen mit mehreren Partnern ausprobieren, wer am besten zu ihnen passt. Erst wenn man die Besten gefunden habe, sei ein glückliches Leben möglich. Die Ehe sei nicht nötig und «versklavt».
Brave Frauen auf Abwege bringen
Einmal ruft sie in den Saal: «Jeder Mann muss in seinen Ohren das Brüllen des Bedürfnisses nach einem weiblichen Orgasmus hören.» Perfekter Sex sei das «Elixier des ewigen Lebens». Das Publikum klatscht. Perfekter Sex mache unsterblich.
Natürlich formiert sich Widerstand. Der wird umso grösser, als Victoria einzelne Personen namentlich der Untreue und falschen Moral bezichtigt. Ihre Gegner graben nun Geschichten aus früheren Jahren aus: sie als Prostituierte, als Quacksalberin, als «unmoralisches Scheusal». Der Karikaturist Thomas Nast zeichnet Woodhull als «Mrs. Satan», die brave Ehefrauen auf Abwege bringt und ebenso brave Ehemänner verführt.
Parteigründung
Bei den Kommunalwahlen im November 1871 gehen Victoria und Tennessee demonstrativ ins Wahllokal, um zu wählen – und werden abgewiesen.
Um als Präsidentin gewählt zu werden, braucht Victoria eine Partei. Am 9. und 10. Mai 1872 findet in New York der Gründungskongress statt, an dem 600 Delegierte teilnehmen. Die neue Partei heisst «Equal Rights Party». Victoria wird zur Präsidentschaftskandidatin erkoren. Natürlich ist auch ihr klar, dass sie gar nicht wählen darf und sicher nicht gewählt wird. Alles ist ein symbolischer Akt.
Hinter Gittern
Jetzt zeigt die Schmutzkampagne gegen sie Folgen. Die Frauenbewegungen unterstützen sie kaum, ebenso wenig die Arbeiter. In die Enge getrieben, bläst Victoria zum Grossangriff. In ihrer Zeitung enthüllt sie, dass der stets moralisierende Pfarrer, Henry Ward Beecher, ein «well-respected Reverend», seit Jahren eine Geliebte hat. Der Skandal beschäftigt während Monaten Gerichte und die Öffentlichkeit. «Es war die grösste Mediengeschichte seit der Ermordung Abraham Lincolns», schreibt Antje Schrupp in ihrer detaillierten, sehr guten Biografie.
Der Pfarrer schlägt zurück. Ein Richter, der mit Victorias Gegnern im gleichen Boot sitzt, bringt die beiden Frauen ins Gefängnis. So sitzen Victoria und Tennessee während der Präsidentschaftswahl hinter Gittern.
Erstaunliche Kehrtwende
Zum Erstaunen aller wendet sich Victoria etwas später dem Katholizismus zu, einer in den USA wenig geachteten Glaubensbewegung. Ehrbare Amerikaner sind Protestanten. Victorias einstige Mitkämpfer schütteln nur die Köpfe.
Im Januar 1877 stirbt Cornelius Vanderbilt. Sein 100-Millionen-Dollar-Vermögen vermacht er einzig seinem Sohn William Henry. Seine neun anderen Kinder, die leer ausgehen, klagen vor Gericht. Sie unterstellen ihrem Vater Unzurechnungsfähigkeit, weil er an Geister geglaubt habe. Als Zeugin wollen sie die jetzt 39-jährige Victoria aufbieten.
Doch William Henry reagiert schnell. Er kauft Victoria und Tennessee im fernen englischen West Brompton ein Haus und vermacht ihnen ein Vermögen von 100’000 Dollar. Nun reisen die beiden Frauen – mit Victorias Tochter Zula Maud – nach England. So können sie vor Gericht nicht über Vanderbilts spiritistische Vorlieben aussagen.
Erfüllter Traum
In England heiratet Victoria einen reichen Halbadligen. Um sich salonfähig zu machen, vollzieht sie eine radikale Kehrtwende und verleugnet ihre früheren Ansichten zur freien Liebe. Ihre früheren Freunde sind entrüstet. Sie hält gutbesuchte Vorträge, auch in der Schweiz, und baut eine Mädchenschule auf.
Der Traum, für den sie so lange gekämpft hat, geht acht Jahre vor ihrem Tod in Erfüllung. In Washington wird am 18. August 1920 der 19. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung ratifiziert. Er legalisiert das Frauenstimmrecht.
Nach dem Tod ihres dritten Mannes erbt sie ein riesiges Vermögen, lässt sich in Bredon’s Norton nieder, saniert das Dorf, in dem sie lebt, hat plötzlich panische Angst vor Bakterien und reicht niemandem mehr die Hand. Und sie hat eine neue Passion: das Auto. Mit einem Mercedes-Simplex fährt sie gar nach Nizza. Sie stirbt mit 88 Jahren am 9. Juni 1927.
Auch wenn sie gegen den Schluss ihres Lebens viele ihrer früheren Ansichten verleugnete, ist Victoria Woodhull doch eine Pionierin für die Rechte der Frau und der Arbeiterschaft. Aber als solche wird sie lange Zeit nicht wahrgenommen. Susan Kullmann, eine ihrer Biografinnen, schreibt: «An ihrem 150. Geburtstag … ist Victoria Claflin Woodhull in der Geschichte weitgehend verlorengegangen. Sie ist es noch immer.» Vor allem die chronisch zerstrittenen Frauenbewegungen liessen sie links liegen. Auch die Arbeiter verachteten sie – sie, die eigentlich eine Arbeiterführerin war. Mit dem Namen Woodhull war über Jahrzehnte nur das «exzentrische, ruchlose Weib» und «Mrs. Satan» verknüpft. «Sie wurde aus den Geschichtsbüchern getilgt, teilweise mit Absicht, teilweise aus Unkenntnis», schreibt Antje Schrupp. Erst vor etwa zwanzig Jahren wurde Victoria neu entdeckt. Endlich erschienen differenzierte Biografien. Und nun plötzlich erinnern sich auch die Frauenorganisationen ihrer vergessenen Vordenkerin und Vorkämpferin.
Dieser Artikel ist ein leicht überarbeiteter Text, den Journal 21 vor acht Jahren im Hinblick auf die Kandidatur von Hillary Clinton publiziert hatte.
Referenzen
Antje Schrupp: Das Aufsehen erregende Leben der Victoria Woodhull, Helmer 2002. Auch als E-Book, Kindle Edition EURO 8.66
Barbra Goldsmith: Other Powers: The Age of Suffrage, Spiritualism, and the Scandalous Victoria Woodhull, New York, 1998. Auch als E-Book, Kindle Edition.
Mary Gabriel: Notorious Victoria: The Life of Victoria Woodhull, Uncensored, 1998, Auch als E-Book, Kindle Edition
Lois Beachy Underhill: The Woman Who Ran For President: The Many Lives of Victoria Woodhull 1996. Auch als E-Book, Kindle Edition
Susan Kullmann: Legal Contender … Victoria C. Woodhull, First Woman to Run for President. The Women's Quarterly, Herbst 1988, S. 16–17. Auch als E-Book, Kindle Edition
*) Die 1924 geborene Shirley Chisholm war die erste afroamerikanische Abgeordnete im Repräsentantenhaus in Washington. 1972 kandidierte sie als erste Afroamerikanerin für die Präsidentschaft, unterlag aber in der Vorwahl George McGovern. 2015 verlieh ihr Präsident Barack Obama posthum die Presidental Medal of Freedom. In Brooklyn wurde ein Shirley-Chrisholm-Park eröffnet.