Die rund 3‘000 Delegierten des Nationalen Volkskongresses versammeln sich jedes Jahr einmal für zehn Tage im März. Sie verabschieden den Jahresbericht des Premierministers und geben die strategischen Richtlinien vor, die dann von einem Ständigen Ausschuss des Kongresses übers Jahr in Gesetze gegossen werden. Parallel zum Volkskongress versammeln sich die rund 2‘000 Delegierten der Konsultativkonferenz, welche die Führung berät. In diesem Gremium sitzen alte Genossen, Revolutionäre und Reformer, aber auch Frauen und Männer aus Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft.
Westliche Stereotype
In keinem westlichen Medienbericht über die beiden Kongresse – in China griffig die «Zwei Grossen» genannt – darf der Hinweis fehlen, dass es sich wahlweise um ein «Scheinparlament», ein «Ja-Sager-Parlament» oder ein «Kopfnicker-Parlament» handle. Die renommierte britische «Financial Times» apostrophiert Chinas Parlament kreativer und der Wirklichkeit etwas näher als «ersatz parliament».
Klar ist, dass der Volkskongress nicht dem entspricht, was westliche Chinakorrespondenten unter einer demokratischen Volksvertretung verstehen. So werden die Abgeordneten nicht durchs Volk, sondern durch die Volkskongresse der Provinzen gewählt. Jetzt immerhin gibt es gelegentlich mehr als einen Kandidaten für einen Sitz. Natürlich behält sich die allmächtige KP, wie in allen andern Bereichen, das letzte Wort vor.
Politische Willensbildung auf Chinesisch
Dennoch ist – alles in allem – der Volkskongress in der Grossen Halle des Volkes auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen nicht einfach eine Ansammlung von willen- und meinungslosen Marionetten. Im Gegenteil. In Kommissionssitzungen und vor allem in den Panels der einzelnen Provinzen wird zuweilen hart diskutiert.
Zudem wird in den Social Media, z.B. auf dem chinesischen Twitterersatz Sina Weibo oder auf dem WeiChat von Tencent eifrig kommentiert, nicht selten derart politisch inkorrekt, dass die Zensoren der Internet-Polizei mit Löschen nicht mehr nachkommen. Die Volkskongress-Abgeordneten sind zudem heute im Unterschied zu früher sehr viel offener gegenüber den chinesischen, aber auch der ausländischen Medien.
Weder harte Landung noch Frühling
In seinem Jahresbericht hat der vor einem Jahr neu ernannte Premier Li Kejiang nichts Überraschendes vermeldet. Alles unter Kontrolle. Die westlichen Untergangspropheten haben einmal mehr nicht Recht bekommen. Wie regelmässig seit drei Jahrzenten. Keine harte Landung der Wirtschaft beispielsweise, und auch keine chinesische Version des arabischen Frühlings. Premier Li deklarierte als Wachstumsziel wie sein Vorgänger Wen Jiabao und sein Vorvorgänger Zhu Rongji etwas zwischen sieben und acht Prozent.
Weitere Schwerpunkte setzte Li mit der Korruptionsbekämpfung, dem Kampf gegen Umwelt- und vornehmlich Luftverschmutzung, tiefere Inflation, Schaffung von Arbeitsplätzen und Finanzreform. Kurz, «nachhaltiges» Wachstum nach dem neuen chinesischen Wirtschaftsmodell – mehr Konsum, weniger Export- und Investitionsabhängigkeit – ist die wegweisende Botschaft.
Militärbudget vergleichsweise moderat
In den westlichen Medien, wen wundert es, war bei Kongresseröffnung aber das Verteidigungsbudget das grosse Thema. Die führenden Blätter in Indien, Indonesien oder Thailand beispielsweise setzten andere Schwerpunkte. China hat das Militärbudget um zwölf Prozent erhöht auf umgerechnet rund 120 Milliarden Franken. Man stelle sich vor, die Wirtschafts-Grossmacht China will anstatt einer Bauernarmee tatsächlich hochtechnisierte, moderne Streitkräfte. Unerhört.
Hinter den USA mit über 600 Milliarden steht nun China an zweiter Stelle. Vergleicht man jedoch Chinas Verteidigungsetat beispielsweise mit jenem Japans, Frankreichs, Deutschlands oder Grossbritanniens, sind die westlichen Sorgenfalten eher heuchlerisch. Überdies hat sich China, verglichen mit Europa und den USA, historisch gesehen kaum je expansionistisch in Szene gesetzt.
Beunruhigung über Luftverschmutzung
Als Kontrastprogramm zu Premier Lis apokalyptischen Luftverschmutzungs-Warnungen schien die Sonne in den ersten drei Tagen des insgesamt zehn Tage dauernden Kongresses aus einem knallblauen Himmel mit Feinstaubwerten von 25 bis 57 PM 2,5. Nur eine Woche zuvor lagen die Werte über 500, die Sicht war minimal. Am Wochenende freilich zeigten die Messstationen wieder Werte von 250 und mehr, also «schwer umweltverschmutzt» und «sehr ungesund».
Eine Woche zuvor beruhigte Staats- und Parteichef Xi Jinping die Bevölkerung mit einem mutigen Spaziergang unter den geplagten chinesischen Massen. Bei schwerster Luftverschmutzung und ohne Mundschutz, notabene.
Auf solidem Weg
Das Führungsduo Xi Jinping und Li Kejiang hat das erste Jahr ihrer vermutlich zehnjährigen Amtszeit jedenfalls mit zählbaren Resultaten bewältigt. China befindet sich alles in allem auf einem soliden Weg. Interessant waren bei den «Grossen Zwei» – Nationaler Volkskongress und Konsultativkonferenz – auch Äusserlichkeiten.
Im Zuge der von Staats- und Parteichef Xi Jinping gleich zum Anfang seiner Amtszeit im November 2012 ausgegebenen Parole für mehr Frugalität, «Dienst am Volk» und Bescheidenheit erhalten die Delegierten auf ihrem Hotelzimmer keinen Blumenstrauss mehr. In der Grossen Halle des Volkes wird auch kein Tee mehr serviert. Es gibt Mineralwasser, und die zweite Flasche auch dann nur, wenn die ausgetrunkene vorgewiesen wird. Abends sollen die Delegierten nach dem uralten, von Partei-Supremo Xi wiederbelebten Prinzip «Vier Gerichte, eine Suppe» dinieren.
Delegierte unter Beobachtung
Nach zuverlässigen Informationen Ihres Korrespondenten wird dem aber nicht in allen Provinz-Delegationen nachgelebt. Mit Argus-Augen verfolgen Blogger, zum teil aber auch die Medien, die Auftritte der Delegierten. Auffällig war beispielshalber der Auftritt der reichen Geschäftsfrau und Delegierten der Konsultativkonferenz Li Xiaolin. Die Tochter des ehemaligen Premiers Li Peng pflegte in sündhaft teuren Pucci-Kleidern , auserlesenem Chanel-Schmuck und Designer-Taschen aufzutreten. Dieses Jahr erschien sie züchtig in Kleidern von der Stange. Kein Wunder, denn Premier Li Kejiang versprach einmal mehr: «Unsere Regierung ist eine Regierung des Volkes».
Kampf ohne Gnade
Premier Li gelobte auch, den Kampf gegen die Korruption «ohne Gnade» zu intensivieren. Ganz nach dem Motto von Parteichef Xi, dass «Tiger und Fliegen», also die grossen Mächtigen so gut wie die kleinen Beamten überwacht werden. Die Liste der abgehalfterten Kongress-Delegierten soll denn auch nach zuverlässigen Informationen so lang sein wie nie zuvor.
Wegen ihrer Schönheit stach buchstäblich die Absenz der reichen und gescheiten Liu Yingxia aus dem nordöstlichen Harbin ins Auge. Sie gründete vor 22 Jahren die Baufirma Xiangyang Group und wurde reich, schwerreich. Heute gehört sie mit einem Vermögen von 4 Milliarden Yuan (umgerechnet etwa 700 Mio. Franken) zu den Reichsten der Reichen der Volksrepublik. Warum Liu fehlt, darüber wurde nichts Offizielles verlautbart. Da sie auch mit der mächtigen Ölfirma CNPC im Geschäft war, überschlagen sich die Mutmassungen und Gerüchte. Gegen CNPC laufen verschiedene Korruptionsverfahren.
Opfer der Antikorruptions-Kampagne
Einige «Tiger» sind in den letzten Jahren ja schon erlegt worden. Das zu lebenslänglicher Haft verurteilte Politbüromitglied Bo Xilai etwa oder der zu einer Todesstrafe mit zweijähriger Bewährung verurteilte Eisenbahnminister Liu Zhijun. Aber es könnte noch schlimmer kommen. Viele fragen sich in China, ob bereits gegen Zhou Yongkang – ehemaliger Sicherheitschef und bis 2012 Mitglied des Ständigen Politbüro-Ausschusses, des mächtigsten Organs der Volksrepublik – ermittelt wird. Viele Hinweise, auch und gerade in den offiziellen Medien, sprechen dafür.
Der Volkskongress-Delegierte Wang Jiaqi aus der Nordost-Provinz Jilin wird von der Nachrichten-Agentur Reuters mit folgenden vielsagenden Worten zitiert: «Zhou Yongkang ist ein nationaler Führer. Wenn er einen Fehler gemacht hat, dann muss gegen ihn ermittelt werden. Wenn er das Gesetz gebrochen hat, dann müssen wir das Rechtssystem anwenden, um zu kontrollieren». Alles klar?