Auffallend oft lesen wir in letzter Zeit parteipolitisch gefärbte, „aufklärerische“, aber auch kritische und besorgte Beiträge zum Thema Freiheit und Liberalismus. Während sich schon Sokrates Gedanken über die eigene Freiheit und jene seiner Gesprächspartner machte, wurde Liberalismus als Grundposition der politischen Philosophie erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts sozusagen als politische Denkrichtung ein Begriff.
Das richtige Augenmass
Seit uns 2007/08 die weltweite Finanzkrise verstärkt ins Bewusstsein brachte, dass die Freiheit der Märkte auch ungeahnte und unangenehme Folgen nach sich ziehen kann, beschäftigen sich - als direkte Konsequenz davon - in vielen Ländern dieser Welt verantwortliche Politikerinnen und Politiker mithilfe staatlicher Interventionen und Regulierungsbemühungen um Präventivmassnahmen. Während einige Bürger dies ganz in Ordnung finden („sowas darf sich niemals wiederholen!“), sind andere alarmiert: mehr Staat, mehr Politik heisst automatisch weniger Freiheit des Individuums, finden diese.
Wir kennen das Phänomen seit langem. Das Pendel schlägt zurück. Ein überbordender, neoliberaler Finanzmarkt, dessen gigantischen Verluste die Steuerzahler und keineswegs die Verursacher zu berappen hatten, rief geradezu gebieterisch nach Abhilfe durch rigide Vorschriften. Jetzt, wo diese zu greifen beginnen und schmerzen, folgt der Aufschrei: der voranschreitenden Bevormundung durch den Staat muss Einhalt geboten werden! Tatsächlich zeichnen sich da und dort Überreaktionen ab. Denn mehr Sicherheit ist nur auf Kosten der Freiheit zu haben. Doch vergessen wir andererseits nicht, was der Denker Isaiah Berlin sagte: „Die Freiheit der Wölfe bedeutet oft genug den Tod der Schafe“. Leserinnen und Leser sind aufgerufen, Wölfe und Schafe auszumachen.
Lifestyle und Konsumwahn versus Gemeinwohl
Für Freiheit sind wir alle. Ohne Zwang zwischen Möglichkeiten auswählen und entscheiden zu können, ist in der Schweiz für viele banale Selbstverständlichkeit, sozusagen staatlich garantiertes Grundrecht. Doch offensichtlich leidet das Begriffspaar Liberalismus und Freiheit als Folge dieser Entwicklung unter Ermüdungserscheinungen. 70 Jahre Frieden und steigender Wohlstand haben zu Verwöhnungsanfälligkeit geführt: der Preis der Freiheit geriet etwas in Vergessenheit.
Gemeinsinn, Gemeinwohl, freiwilliges Engagement für andere in der Gesellschaft – die Begriffe sind offensichtlich aus der Mode geraten. Verdrängt durch Lifestyle, Eigeninteresse, Konsumzwang. Dabei könnten wir alle durchaus, zum eigenen Vorteil, vom Wert und Nutzen des Gemeinwohls profitieren: wer hier investiert, erhält den Payback. Die Erkenntnisse, die der Einzelne aus den Erfahrungen mit der Gesellschaft zieht, sind Guthaben der sicheren Art, zwar zinslos, aber lohnenswert.
„Freiwilligkeit ist der Preis der Freiheit“, sagte einst Gottlieb Duttweiler.
Die Krise des Liberalismus
Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts war weniger machtpolitisch, als inhaltlich geprägt. Er trat ein für Freihandel und gegen den Schutz der einheimischen Industrie und Landwirtschaft. Er hielt nicht viel von der Idee des Wohlfahrtsstaates; vielmehr plädierte er für Hilfe zur Selbsthilfe. Eine seiner grossen Taten war die Mitbegründung des Genossenschaftswesens, das bis heute nichts von seiner Attraktivität verloren hat.
Wie Frank Schäffler (Think Tank „Prometheus – Das Freiheitsinstitut“ in Berlin) im Schweizer Monat in Erinnerung ruft, waren die Linksliberalen historisch die Gegner des Establishments, das sich durch Furcht vor Veränderung gegenüber der Zuversicht auf Neues und Unbekanntes definierte und dabei glaubte, „dass nur die ‚richtigen‘ konservativen Personen gewählt oder bestimmt werden müssen, dann wird anschliessend auch die ‚richtige‘ konservative Politik gemacht“.
Offensichtlich zieht diese zu einfache Regel der konservativen Liberalen längst nicht mehr, ja sie hat gerade in der Schweiz in den letzten 15 Jahren zu desaströsen Resultaten (Swissair-Grounding etc.) geführt. Doch auch vom Einstehen für Freihandel und gegen Protektionismus ist nicht viel übrig geblieben: Entgegen den offiziellen Parteiparolen stimmten vor allem die „Liberalen“ aus SVP und FDP im Mai 2015 für die Abschaffung des „Cassis-de-Dijon-Prinzips“, für Grenzabschottung zugunsten der seit jeher gerade von diesen Parteien gehätschelten Landwirtschaft und somit für happige Preiszuschläge für die Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten.
Gefährdetes freiheitliches Geschäftsmodell
Und natürlich haben auch Fehlinterpretationen des Wirtschaftsliberalismus zum verschlechterten Image der einstigen Grundideen beigetragen. Noch in der Gegenwart behaupten allen Ernstes gewisse Kreise, der Profit per se sei das Ziel des Wirtschaftens. Dem etwas ermüdeten liberalen Denken unserer Zeit erweisen solche Weisheiten einen Bärendienst. „Gewinnstreben ist sozial!“, diese abenteuerliche Definition ist nicht totzukriegen, obwohl echte liberale Denker (wie Walter Röpke und Alexander Rüstow) schon seit langem ein Koordinatensystem entwickelt haben, in dem Gewinnstreben nie schon „per se“ sozial ist.
Dass solche Trends zu einem Vertrauensverlust in Politik und Wirtschaft geführt haben, ist offensichtlich. Wer diese Entwicklung stoppen möchte, sollte allerdings darauf verzichten, das etwas rostig gewordene Schlagwort „was gut ist für die Wirtschaft ist automatisch gut für die Gesellschaft“ zu beschwören. Dieser Fokus ist zu eng.
Offensichtlich gefährden je länger je mehr auch Terroristen aller Schattierungen die freiheitlichen Grundideen westlicher Staaten. Neben den „hauseigenen“ Kämpfern, die sich vergleichsweise harmlos via Forderungen nach mehr Sozialstaat in Szene setzen, greifen jene zu brutalsten Methoden, die wir in unserem zu naivem Fortschritts- und Wohlstandsdenken als längst überwunden glaubten. Mitschuldig an diesem unglücklichen Trend sind jedoch auch jene Kreise, die gezielt und unaufhörlich die Spannungen in unserer Gesellschaft verstärken, indem sie Misstrauen und Angst gegenüber Ausländern säen. Was Attentate selbstverständlich in keiner Weise entschuldigt.
Freiheit heisst nicht Zügellosigkeit
Dass neuestens das demokratische, urschweizerische, komplizierte Verständnis der politischen Lösungs- und Kooperationsgedankens als Hindernis zur Bewältigung der Zukunft und dafür das autoritäre Geschäftsmodell Chinas als zukunftsträchtiger dargestellt wird, ist allerdings nicht mehr und nicht weniger als grober Unfug. Das Fundament unserer freiheitlichen Demokratie ist solide, einige medial verbreitete Weisheiten künftiger Nationalratskandidatinnen sind es wohl weniger.
„Freiheit heisst nicht Zügellosigkeit“, sagte kürzlich der Soziologe Peter Gross. Er meinte damit, dass nicht nur der Staat - sondern jeder Einzelne in unserer individualisierten Gesellschaft sich selbst – Regeln zu setzen hat. „Sich selbst“ bezog sich wohl auch auf Unternehmen und Konzerne in unseren freien Märkten.
Wem daran gelegen ist, dass der Begriff Liberalismus zukunftstauglich regeneriert wird, damit die ursprüngliche Ideen der Gründerväter Adam Smith, John Stuart Mill und John Rawls eine Renaissance erleben dürfen, sollte also nicht nur mit dem Finger auf andere zeigen, sondern bei sich selbst beginnen. Denn ursprünglich ging es ja um einen kollektiven Wohlstandsgewinn durch den Liberalismus, also durchaus um Gemeinwohl.
Gegen die Selbstüberschätzung der eigenen Urteilsfähigkeit
Ortfried Höffe, emeritierter Professor an der Universität Tübingen, ruft in der NZZ (29.12.2014) in Erinnerung, dass eine handlungsgerechte Selbstkritik am Anfang eines neuzeitlichen Liberalismus stehen sollte. Daraus leitet er die Bereitschaft ab, sich angesichts neuer Herausforderungen verändern zu wollen. Zur neuen Argumentationsstrategie zählt er u.a., dass der Wirtschaftsliberalismus rechtliche und politische Regeln braucht. Auch braucht es die Bürgertugend der Toleranz: „sie widersetzt sich einer Selbstüberschätzung der eigenen Urteilsfähigkeit, weist jeden Fanatismus von sich und hält sich für kreative Kompromisse offen.“
Höffe definiert wichtige Herausforderungen, denen es sich u.a. zu stellen gibt: „die neue soziale Frage durch eine Umschichtung der Staatsaufgaben und Staatsausgaben zugunsten der (nicht bloss wirtschaftlichen) Investitionen, ferner das Desiderat an Bürgertugenden durch eine Stärkung des freien Gemeinsinns und der Bürgergesellschaft, einschliesslich die Globalisierung durch die Fortentwicklung einer fairen weltweiten Kooperation, einschliesslich der politischen Institutionen, hin in Richtung auf grossregionale Zwischenstufen wie die Europäische Union […].“
Renaissance des Liberalismus?
Liberale Kreise, also jene Politikerinnen und Politiker, die die Zeichen der Zeit und den Reformbedarf der etwas in Vergessenheit geratenen freiheitlichen Idee erkannt haben, eröffnet sich ein grosses Feld für erfolgreiche Betätigung. Sie sollten jedoch den Grundsatz von Gerhard Schwarz (avenir aktuell) bedenken: „Der Liberalismus ist nicht grundsätzlich ein Gegner des Staates, im Gegenteil! Zur Sicherung von Freiheit, Wettbewerb und sozialer Marktwirtschaft ist er sogar unabdingbar. Es gilt aber zu verhindern, dass er seine Aufgaben überinterpretiert.“
Auf der Homepage von „Prometheus – Das Freiheitsinstitut“, ist zu lesen: „ Es ist unser Ziel, den Wert der Selbstverantwortung in unserer Gesellschaft zu stärken. Wir sind überzeugt, dass es Ausdruck menschlicher Würde ist, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Darum setzen wir uns ein für individuelle Freiheit, die Stärkung der Zivilgesellschaft, eine freiheitliche Wirtschaftsordnung, die Herrschaft des Rechts und den Rückbau eines paternalistischen Staates. Prometheus will beitragen zum Aufbau einer freien Gesellschaft.“
Gut formuliert, richtig gedacht, zukunftskompatibel. Politische Kräfte in der Schweiz, die sich diesen Grundsätzen verpflichtet fühlen, sollten dies jetzt im politischen Alltag durch Taten beherzigen.