Der erwartete Triumph im ersten Wahlgang war ihr versagt geblieben, in der entscheidenden zweiten Runde errang sie dann aber doch noch einen soliden Sieg. Dilma Rousseff, die sich mit 62 Jahren zum ersten Mal überhaupt einer Wahl stellte, erhielt 56 Prozent der Stimmen. Sie liess damit den konservativen Sozialdemokraten José Serra deutlich hinter sich – wie 2003 schon ihr politischer Ziehvater Luiz Inácio Lula da Silva. Brasiliens erster Arbeiterpräsident musste allerdings zuvor drei Niederlagen in Kauf nehmen, erst im vierten Anlauf schaffte der frühere Gewerkschaftschef den Sprung ins höchste Staatsamt. Heute ist er populärer als jedes andere Staatsoberhaupt in Lateinamerika, und seiner Beliebtheit hat es Dilma Roussef hauptsächlich zu verdanken, dass sie in den kommenden vier Jahren als erste Frau die Geschicke Brasiliens lenken wird.
Lula hat ihre Kandidatur gegen heftige Widerstände in seiner Arbeiterpartei durchgesetzt und sie dann auch im Wahlkampf unermüdlich unterstützt. Seine Ex-Kabinettschefin, die bei weitem nicht mit so viel Charisma gesegnet ist wie der scheidende Präsident, war auf diese Hilfe dringend angewiesen, wussten doch zu Beginn der Wahlkampagne die meisten ihrer Landsleute nicht einmal, wer sie war. Ganz selbstlos handelte Lula nicht: Er wollte sicherstellen, dass sein politisches Erbe erhalten bleibt, und dies garantiert nach seiner Einschätzung niemand besser als Rousseff. Mit ihr, so betonte er in den vergangenen Monaten immer wieder, werde Brasiliens Wirtschaft auch in Zukunft kräftig wachsen und die Armut weiter abnehmen.
Boom um fast jeden Preis
Rousseff steht jetzt vor der Herausforderung, aus dem Schatten ihres Förderers zu treten, ohne ihm untreu zu werden. In ihren Wahlspots versprach sie, alles daran zu setzen, dass „bis 2016 kein Brasilianer mehr im Elend leben wird“. Wie sie das bewerkstelligen möchte, hat sie bisher bloss in groben Zügen angedeutet. Eines der Hauptinstrumente ihrer Sozialpolitik wird die so genannte „Bolsa Familia“ bleiben, ein staatlich finanziertes Familien-Stipendium, von dem heute zwölf Millionen Haushalte profitieren. Zielstrebig vorantreiben will Brasiliens neue Staatschefin die unter der Regierung Lula in die Wege geleiteten Wachstumsbeschleunigungsprogramme, mit denen Defizite in der Infrastruktur des Landes behoben werden sollen. Die Palette der Projekte reicht vom Bau neuer Eisenbahnen, Fernstrassen und Hafenanlagen bis zur Sanierung städtischer Armenviertel. Lula übertrug Rousseff 2005 die Oberaufsicht über das wichtigste Investitionsprogramm der Regierung und legte damit einen weiteren Grundstein für ihren politischen Aufstieg. Die energische Technokratin hatte ihm zuvor zweieinhalb Jahre loyal als Bergbau- und Energieministerin gedient. Mitte 2005 folgte der nächste Karrierresprung: José Dirceu, bis zu diesem Zeitpunkt Lulas rechte Hand, musste wegen eines Korruptionsskandals als Kabinettschef zurücktreten, Rousseff wurde seine Nachfolgerin.
Wie ihr politischer Ziehvater setzte sie auf ein Wirtschaftswachstums um fast jeden Preis und liess dabei ausser Acht, dass von den sozialen und ökologischen Kosten eines solchen Kurses besonders die Armen betroffen sind. Bedenken von Umweltschutzorganisationen oder Proteste von Bürgerbewegungen gegen Mammutprojekte wie das geplante Wasserkraftwerk Belo Monte am Amazonas-Nebenfluss Xingu stiessen bei ihr auf taube Ohren. Diese mangelnde Sensibilität gegenüber Umweltproblemen dürfte dazu beigetragen haben, dass im ersten Wahlgang überraschend viele Wähler der Grünen Marina Silva und nicht ihr die Stimme gaben und sie darum zu einer Stichwahl antreten musste.
Weg von den Rüschenblusen
Auch wenn Rouseff ihr Bekenntnis zur Kontinuität geradezu mantramässig wiederholt, etwas wird sich bestimmt verändern: der Regierungsstil. Lula, der ehemalige Metallarbeiter, brüstet sich gern damit, dass er es mit allen kann, zu Bankiers und Fabrikanten einen genauso guten Draht hat wie zu Landarbeitern und Kindern aus Elendsquartieren. Sein umgängliches Wesen, seine Spontaneität und sein Talent, sich in Szene zu setzen, ohne unbescheiden zu wirken, haben ihm manche Tür geöffnet – zuhause und auf dem internationalen Parkett. Rouseff hinterlässt neben dem begnadeten Kommunikator einen spröden Eindruck, ihr Benehmen hat etwas Gekünsteltes. Ehemalige Untergebene bezeichneten sie hinter vorgehaltener Hand als schwierig und launisch. Auch Politiker und Journalisten beklagten sich mehr als einmal über ihr zuweilen schroffes Auftreten und verpassten ihr das Etikett „Dama de ferro“ – eiserne Lady. Inzwischen ist zumindest ihr Äusseres weniger streng. Auf Anraten ihrer Wahlmanager unterzog sie sich einer Schönheitsoperation, trennte sich von ihren Rüschenblusen, tauschte ihre Brille gegen Kontaktlinsen und liess sich einen modischen Haarschnitt verpassen.
Als Präsidentin wird Rousseff - wie in den vergangenen acht Jahren der Pragmatiker Lula - bei wichtigen Geschäften Kompromisse eingehen müssen. Sie kann sich im Parlament zwar theoretisch auf eine breitere Mehrheit stützen als ihr Vorgänger, da ihre Mitte-Links-Koalition gestärkt aus den Wahlen hervorging. Mit der Parteiendisziplin ist es jedoch in Brasilien nicht weit her. Der einzelne Abgeordnete fühlt sich seiner politischen Gruppierung in der Regel nicht stark verbunden, Fraktionswechsel während der Legislaturperiode sind keine Seltenheit. Rousseff wird deshalb immer wieder um Mehrheiten zu kämpfen haben. In ihrer Arbeiterpartei dürften ebenfalls einige Kraftproben auf sie warten. Der linke Flügel musste unter Lula zurückstecken, jetzt wird er versuchen, dass verlorene Terrain zurückzugewinnen.
Von der Revolutionärin zur „Mutter der Nation“
Rousseff ist erst 2001 dem Partido dos Trabalhadores beigetreten. Eine Linke war die Tochter eines bulgarischen Einwanderers und einer brasilianischen Lehrerin allerdings schon in ihrer Jugend, und zwar eine radikale. Als 1964 die Generäle in Brasilien die Macht übernahmen, begann sie sich intensiv mit marxistischen Theorien zu beschäftigen. Ende der sechziger Jahre ging sie in den Untergrund, schloss sich einer Guerillaorganisation an, stieg schnell in den Führungszirkel der Gruppe auf und beteiligte sich an der Planung mehrerer Banküberfälle. Im Januar 1970 verhaftete die Polizei sie in einer Bar in São Paulo. Rousseff wurde wegen Subversion verurteilt und sass beinahe drei Jahre im Gefängnis. Während der Haft wurde sie mehrmals gefoltert.
Nach ihrer Freilassung zog sie in den Bundesstaat Rio Grande do Sul, setzte ihr Studium der Wirtschaftswissenschaften fort und half mit, die Demokratische Arbeiterpartei PDT aufzubauen, die nach der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1985 mehrere brasilianische Teilstaaten regierte. Rousseff übernahm zunächst die Verantwortung für die Finanzen der südbrasilianischen Stadt Porto Alegre. Später wurde sie Energieministerin von Rio Grande do Sul und leitete zielstrebig Reformen in die Wege. Ihrer Voraussicht war es weitgehend zu verdanken, dass dieser Bundesstaat vom gigantischen Stromausfall, der 2002 weite Teile von Brasilien verdunkelte, verschont blieb – und Lula eine Erleuchtung hatte. Er holte Rousseff zuerst in seinen Beraterstab und danach in sein Kabinett.
Mehr als ihre politische Karriere beeindruckt viele ihrer Landsleute, wie die zweifach geschiedene Politikerin eine persönliche Lebenskrise meisterte. 2008 wurde ihr die Diagnose Lymphdrüsenkrebs gestellt und sie musste sich einer aufwändigen Chemotherapie unterziehen. Sie machte ihre Krankheit öffentlich und trug sieben Monate eine Perücke. Diese Offenheit nötigte vielen Brasilianern Respekt ab. Inzwischen soll Rousseff, die eine erwachsene Tochter und seit ein paar Wochen auch einen Enkel hat, geheilt sein und ihre Pflichten als selbst ernannte „Mutter der Nation“ ohne Einschränkungen erfüllen können. Auch ohne die schützende Hand von Übervater Lula.