Was ist das Material der Kunst? Keine Frage: Leinwand, Papier, Farbe, Holz, Bronze, auch einmal der menschliche Körper in Bewegung, der eigene des Künstlers und der Künstlerin oder ein dritter, und manch Greifbares mehr, aber, in der Konzeptkunst, auch Gedanken und Vorstellungen. Der 1950 geborene Jos Näpflin – er stammt aus Wolfenschiessen und ist in Zürich tätig – fasst es breiter und weitet damit den Kunst- und Skulpturbegriff aus. Für ihn ist Kunst Arbeit mit Geschehnissen, Wortfetzen, Bildern, Berichten, die er in seinem Alltag findet, die ihn anrühren, die er im Kopf mit sich herumträgt. All das kann auf ganz unterschiedliche Weise in Installation, Video, Fotografie, Zeichnung Gestalt annehmen.
Künstler-Künstler
Jos Näpflin, gelernter Mechaniker, ist als Künstler Autodidakt. Er besuchte nie eine Kunstschule. Seit Jahrzehnten ist er mit seiner Kunst in Gruppen- und Einzelausstellungen unterwegs – stets abseits merkantiler Betriebsamkeit und lauter Events, doch stets interessiert am aktuellen Kultur- und Kunstgeschehen und an Kunstgeschichte. Er liebt Kontakte zu Künstlern und Kunsttheoretikern und die Auseinandersetzung mit ihnen – ein Künstler-Künstler eben, was auch heisst: Er ist vernetzt unter Seinesgleichen und von ihnen wegen der Konsequenz seines Schaffens geschätzt, aber nur schwer integrierbar in ein System des Marktes.
Grosse Ankäufe für bedeutende Privatsammlungen hat er keine zu verzeichnen, öffentliche Förderung aber sehr wohl. Er erhielt insgesamt sechs Werkbeiträge von Stadt und Kanton Zürich sowie Preise in seiner Innerschweizer Heimat. Neulich sprach ihm die in Stans domizilierte Frey-Näpflin-Stiftung ein stattlich dotiertes Werkjahr in der Höhe von 50’000 Franken zu. Die Stiftung geht auf den Nidwaldner Unternehmer und Kunstsammler Anton Frey-Näpflin (1929–2010) und seine Gattin Ruth (1938–2013) zurück und arbeitet eng mit dem Nidwaldner Museum in Stans zusammen. Der Künstler Jos Näpflin, mit den Stiftern in keiner Weise verwandtschaftlich verbunden, erhielt das erste Werkjahr, das die Stiftung vergab, und um das sich 44 Künstlerinnen und Künstlern bewarben. Verbunden ist das Werkjahr mit einer Ausstellung im Nidwaldner Museum in Stans.
Lustvolle Abenteuer
Hier breitet Jos Näpflin sein Material aus. Er präsentiert es so, dass komplexe Ideengeflechte entstehen, die im Kopf der Besucherinnen und Besucher zahlreiche und sich mitunter verzweigende Gedankenstränge auslösen können. Dass er als Künstler diese je nach Befindlichkeit des Betrachters jeweils andere Rezeption wohl beeinflussen, aber letztlich nicht lenken kann, gehört zum geheimnisvollen, weil undurchschaubaren System seines Arbeitens.
Näpflins Werke nehmen auch unser Denken als „Material“. Das liesse sich, auch wenn solches Pathos dem Künstler fremd wäre, als grundsätzliche Aussage über Kunst verstehen. Näpflin ruft diese Beziehung zwischen Kunst und Betrachtern mit seltener Stringenz ins Bewusstsein, auch wenn die Erkenntnis nicht neu ist. Man denke an Brian O’Dohertys Bemerkung in seinem Aufsatz über den White Cube (1996): „Es ist die Rezeption, die in letzter Instanz die Inhalte liefert.“ Dass das nicht immer rasch und leicht vonstatten geht, ist die eine Erfahrung im Umgang mit Näpflins Kunst; dass diese Erfahrung durchaus lustvoll sein kann, eine andere.
Ein Beispiel für Näpflins Vorgehen ist das in Stans gezeigte Objekt, das der Ausstellung ihren Titel gibt: „Black Box Box“. „Black Box“ hat verschiedene Bedeutungen, verweist in jedem Fall aber auf Unbekanntes, Geheimnisvolles, auf das unlösbare Rätsel. Der Inhalt der Black Box – nun in der Psychologie oder der Systemtheorie – entzieht sich rein rationaler Analyse. Meist taucht der Begriff aber im Zusammenhang mit Flugzeug-Crashs auf. Die Kiste mit dem Flugdatenschreiber ist allerdings nicht schwarz, sondern signalrot, damit man sie rasch findet. Das Geheimnis birgt sie jedoch trotzdem. Näpflins „Black Box“ ist ebenfalls grellrot. Sie liegt in einer Kiste (darum „Black Box Box“) und die Kiste im Museums-Pavillon, der so zur „Black Box Box Box“ wird.
Werkzeugkiste der Barmherzigkeit
Die rote Black Box lässt sich öffnen. Das Innere wirkt wie eine Werkzeugkiste, doch in den ausgesparten Vertiefungen liegen nicht Hammer, Zange, Schraubenzieher, sondern Heftpflaster, eine Schere und Desinfektionsmittel: Werkzeug zum Heilen von Wunden. Auf die Heftpflaster sind verschiedene Bezeichnungen für die biblischen Werke der Barmherzigkeit gestickt. Die Blackbox wird zur Werkzeugkiste der Barmherzigkeit – ein Wort, das Näpflin zum Sinnieren bringt: „Barmherzig“ sei – im Gegensatz zu „unbarmherzig“ – bedauerlicherweise aus dem heutigen Wortschatz weitgehend verschwunden, meint er. Auf den Begriff führte ihn Caravaggios 1606 entstandenes virtuoses Bild „Die Werke der Barmherzigkeit“ in der Kapelle Pio Monte della Misericordia in Neapel.
Zum Sinnieren brachte ihn auch die Farbe der Heftpflaster. Näpflin wollte deutlich machen, dass die Werke der Barmherzigkeit allen Menschen zukommen sollen. Das liesse sich anzeigen mit der Farbe der Heftpflaster, welche die ganze Farbskala menschlicher Haut vom dunklen Braun bis zum hellen Inkarnat abzubilden hätte. Doch Heftpflaster gibt es überall auf der Welt nur in der Farbe des „europäischen“ Inkarnates, und Näpflin musste die Stufen seiner Hautskala eigens herstellen lassen: Verweist er da auf vielleicht unbewussten, aber doch weltweit verbreiteten Eurozentrismus oder gar Rassismus? Obwohl lange vor den Vorgängen um den Tod des Schwarz-Amerikaners George Floyd und vor den weit über die USA hinaus neu aufflammende Rassen-Diskussionen konzipiert, erhält Näpflins „Black Box Box“ eine ungeahnte Aktualität. Das ist typisch für Jos Näpflin: Seine Werke gewinnen politische Brisanz gleichsam nebenbei.
Streichquartett im Dunkeln
Die Back Box als ein sich in alle Richtungen verästelndes Motiv ist Jos Näpflin so wichtig, dass er einen Prolog der Ausstellung konzipierte, der leider den Corona-Massnahmen zum Opfer fiel: Er lud das Pacific Quartet Vienna ein, vor Ausstellungsbeginn im leeren Raum das dritte Streichquartett (2001) des für experimentelles Komponieren bedeutenden Österreichers Georg Friedrich Haas (*1953) zu spielen. Haas’ Werk von mindestens 35 Minuten Dauer entwickelt im völlig abgedunkelten Raum im sich gegenseitig beeinflussenden und weitgehend freien Spiel der Musikerinnen und Musiker ein komplexes und in manchem rätselhaft bleibendes Klanggebilde.
Jos Näpflin bearbeitet kein bevorzugtes Material, und es gibt bei ihm keine bevorzugte Technik. Er ist, obwohl es Malereien und Zeichnungen von seiner Hand gibt, kein Maler oder Zeichner und, trotz seiner Eisenskulpturen, kein Plastiker. Er ist alles zugleich. Er greift installativ in den Museumsraum in Stans ein, verändert den Zugang so, dass die Besucher sich niederbeugen müssen, um einzutreten, und er präsentiert eine Reihe irritierend schöner Fotografien des Wolkenhimmels: Perforierte Linien bilden als Raster einen Kontrast zum freien Schweben der Wolken. Für die Kapelle des Winkelriedhauses schuf er eine Glasmalerei mit dem Doppelkreuz-Motiv des Hashtag (#), das im Sakralraum der Kapelle eine neue und vielschichtige Bedeutung erhält. In früheren Präsentationen arbeitete er mit Wasserlachen oder mit Licht und er gab simplen Alltagsdingen unerwartet vielschichtige Bedeutungen – einem Heuhaufen beispielsweise, in dem man nach der berühmten Nadel sucht.
Ein Konzeptkünstler? Nicht wirklich, denn die sinnliche Präsenz und die haptische Qualität der Materialien sind ihm wichtig. Nähe zur Arte Povera, die er in seiner Jugend hautnah erlebte? Vielleicht, aber die Ästhetisierung bedeutet ihm weniger als dies zum Beispiel bei Giuseppe Penone, Giovanni Anselmo oder Alighiero Boetti der Fall ist.
Der Mensch als Thema
Auch die Frage nach dem Schlüsselthema von Jos Näpflins Schaffen ist nicht leicht zu beantworten. Seine Arbeiten sind so breit aufgefächert, als ob er alles gleichzeitig im Blick haben möchte. Dabei legt er die Latte hoch: Er zielt auf nicht weniger als die grossen Themen menschlichen Lebens ab. Auch wenn man in seinem Werk ganz selten Menschen sieht, so ist sein Thema doch, wie er selber sagt, der Mensch: Wir, die wir seinen Arbeiten gegenübertreten und uns vielleicht von ihnen treffen lassen. Das war und ist wohl stets die Grundausrichtung jeder Kunst. Aber Jos Näpflin verfolgt diese Strategie mit seltener Beharrlichkeit.
Der Künstler dazu: „Mich interessiert der Mensch, seine Präsenz, aber auch seine Abwesenheit, Spuren, die er hinterlässt, die auf ihn verweisen.“ Und: „Ich möchte ein Angebot schaffen für die Suche nach Identität, nach dem Woher, den Wurzeln, und nach dem Wohin.“
Nidwaldner Museum Winkelriedhaus, Stans. 13. März bis 8. August
Eine Publikation mit Beiträgen von Yasmin Afschar, Gabriela Christen, Barbara von Flüh, Patrizia Keller, Daniel Kurjakovic, Peter von Matt u.a. erscheint am 9. Juli.
In der Ende März erscheinenden Nummer der Zeitschrift „Kunstbulletin“ (Herausgegeben vom Schweizer Kunstverein) erscheint ein grösserer Beitrag über Jos Näpflin.
www.nidwaldner-museum.ch