Als Gouverneur im südlichen Russland soll der Feldherr Grigori Alexandrowitsch Potemkin (1739–1791) seine Soldaten angewiesen haben, entlang von Strassen Kulissendörfer zu errichten. Dies, um Katharina der Grossen (1729–1796) Fortschritte bei der Besiedelung vorzutäuschen, als sie sich auf einer Inspektionsreise durch die neuen Provinzen befand. Diese Geschichte ist allerdings erfunden, eine pure Legende, die Potemkin von Neidern am Zarenhof angedichtet wurde.
Doch das geflügelte Wort von den «Potemkinschen Dörfern» ist geblieben und steht bis heute für die Vorspiegelung falscher Tatsachen. Nun ist das Bedürfnis nach einer Verschönerung von Sachverhalten ja nie aus der Mode gekommen. Es wird heute sogar ziemlich exzessiv ausgelebt – nicht zuletzt im Bildungsbereich. Genauer betrachtet ist dieser mittlerweile ein einziges grosses Potemkinsches Dorf, und eine Hauptgasse dieser Kulissensiedlung soll hier besichtigt werden: die Verpflichtung der Volksschule, in einer scharf auf Konkurrenz angelegten Gesellschaft Chancengleichheit herzustellen.
Theorie der Sprachbarrieren
Neu ist dieser Auftrag an die Pädagogik ja keineswegs, er wurde schon in den Sechzigern ausdrücklich formuliert, und zwar im Zusammenhang mit der Defizit-Hypothese von Basil Bernstein (1926–2000). Dieser britische Soziologe diagnostizierte signifikante Mankos der Unterschichts- gegenüber der Mittelschichtssprache. Während letztere auf Differenzierung sowie individuierten Ausdruck angelegt ist, soll die Sprache der Arbeiter Stereotypen verhaftet sein und über einen eingeschränkten Wortschatz verfügen, was auch kognitive Einschränkungen nach sich ziehe. Entsprechend brachte Bernstein die Begriffe des «elaborierten» und des «restringierten» Codes ins Spiel.
Bald schon stellten Schüler Bernsteins einen Zusammenhang mit dem offensichtlich schichtspezifischen Schulerfolg her. Sie sahen die Unterschichtskinder durch ihre sprachliche Sozialisation benachteiligt und forderten eine kompensatorische Spracherziehung im Rahmen der Schule, um die Defizite auszubügeln. Das Konzept erlangte Popularität, Pilotprojekte wurden gestartet, nicht nur in England, sondern auch in den USA, wo die Rassenschranken gerade ins Rampenlicht rückten. Viel Erfolg war der sprachlichen Nachrüstung allerdings nicht beschieden, und sie verschwand aus dem pädagogischen Repertoire so schnell, wie sie gekommen war.
Verkürzungen und Vorurteile
Das braucht nicht zu verwundern, denn der Ansatz greift eindeutig zu kurz und wurde auch schon bald von anderen Sprachforschern zerzaust. Vor allem der amerikanische Soziolinguist William Labov (*1927) wies die Defizit-Hypothese zurück und sah in den schichtspezifischen Sprachen gleichwertige Soziolekte, deren Verwendung keine Rückschlüsse auf die kognitiven Fähigkeiten der Sprecher zulässt. Seiner Meinung nach war die Vorstellung von einem «elaborierten Code» schlicht in Vorurteilen begründet, nämlich in der Voreingenommenheit der Forscher für die Sprachstandards der Mittelschicht.
Überhaupt ist es einigermassen abenteuerlich, die Benachteiligung von Unterschichtskindern allein an ihrer Sprache festmachen zu wollen. Die Mittelschichtssozialisation umfasst – damals wie heute – eine umfassende Vorbereitung auf die Schule, die den Kindern später von Nutzen ist. Bleibt sie im Vorschulalter aus, so lässt sie sich nicht durch gutgemeinte Schnellbleichen wettmachen. Es geht um die grundsätzliche Einstellung der Eltern sowohl gegenüber Selbstkontrolle als auch abstraktem Wissen.
Agentur der Mittelschicht
Das beginnt schon mit der Bereitschaft, die mitunter ermüdenden Fragen der Kinder zu beantworten und so ihrer Neugier mit Wertschätzung zu begegnen. Es umfasst auch eine familiäre Erzähl- und Gesprächskultur, die ruhiges Zuhören verlangt und dabei Horizonte öffnet. Nicht weniger bedeutsam ist die interessierte Begleitung eigenständiger Spiel- oder Bastelprojekte der Kinder.
Kurz, das Kind erfährt in einem solchen Umfeld Zuwendung, wenn es sich still und konzentriert mit einer Sache beschäftigt – und exakt das wird die Schule später von ihm verlangen. Bringt es diese Voraussetzung nicht mit, wird es sich dort mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht wohlfühlen. Es dürfte sich schon am disziplinierenden Rahmen reiben, nicht recht verstehen, was die seltsamen Lernspiele sollen, und abhängen, wenn schliesslich erkennbar Misserfolge eintreten.
Schule war schon in den Sechzigern im Wesentlichen eine Mittelschichtsagentur. Sie setzte deshalb eine bestimmte Form von Sozialisation voraus, die eben in den Arbeitermilieus oft nicht gegeben war. Diese Art von Chancenungleichheit stellt in der Tat ein Problem dar – bis heute, aber keins, das sich im Rahmen eines pädagogischen Projekts schnell, sauber und kostengünstig lösen lässt.
Illusion pädagogischer Machbarkeit
Bei den kompensatorischen Sprachprogrammen handelt es sich ohne Zweifel um Luftschlösser, aber grundsätzlich weisen sie bereits viele Merkmale auf, die auch aktuelle Reformprojekte charakterisieren: Da ist einmal die heillose Überbewertung akademischer Expertise, zudem die vorschnelle Operationalisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse im Rahmen der Schule. Generell herrschen Illusionen bezüglich der pädagogischen Machbarkeit.
Nehmen wir als Beispiel den frühsprachlichen Unterricht. Natürlich sind die Untersuchungen Legion, welche die Lockerheit und Eleganz des spontanen kindlichen Spracherwerbs belegen. Doch was im Sandhaufen geschieht, lässt sich nicht eins zu eins aufs Feld der Schule übertragen, auch dann nicht, wenn diese künstlich als Spielplatz aufgeputzt wird.
Soziale Reparaturwerkstatt
Vor allem aber stand im Gefolge der Defizit-Hypothese die Forderung im Raum, Schule habe jene ungleichen Startchancen zu kompensieren, die in der gesellschaftlichen Schichtung wurzeln. Auch heute ist dieser Integrationsauftrag zentral und geht im Übrigen noch viel weiter: Er umfasst mittlerweile körperlich oder kognitiv Benachteiligte, Verhaltensauffällige, dazu Kinder mit grundsätzlich mangelnder Kenntnis der Unterrichtssprache bzw. den verschiedensten kulturellen Hintergründen. Mit den paar Zusatzstunden, welche die Bernstein-Schüler damals den Unterschichtskids verordneten, wären entsprechende Kompensationsaufträge auf jeden Fall nicht zu leisten.
Natürlich, das Recht auf Chancengleichheit ist in den westlichen Demokratien unbestritten, doch es stellt sich die Frage, ob die Schule der geeignete Ort ist, es durchzusetzen. Sie mag sich dafür anbieten, weil sie den sozialen Flaschenhals darstellt, den alle Kinder passieren müssen. Aber angesichts der Komplexität der Aufgabe wirkt die ehrwürdige Institution Schule zunehmend überfordert. Dies vor allem auch darum, weil ausgerechnet jene Unterrichtsmethoden kontraproduktiv sind, die als modische Königswege zur Integration propagiert werden.
Reformpädagogisches Utopia?
Im späten 20. Jahrhundert hat sich im Bildungsbereich ein Konsens etabliert, in den ganz offensichtlich antiautoritäre Impulse eingeflossen sind. Direktiver, auf die Lehrperson konzentrierter Unterricht ist out; die Schülerinnen und Schüler haben im Mittelpunkt zu stehen, ihre individuellen Anlagen sind zu fördern und ebenso ihre Selbstkompetenz, d. h. ihre Fähigkeit zu selbstgesteuertem, selbstverantwortlichem Lernen. Statt angeblicher Gleichschaltung durch Frontalunterricht nun also das Coaching von vielfältigen, möglichst offenen Prozessen, denen das Ziel eigentlich eher im Weg steht.
Das mag aussehen wie ein reformpädagogisches Utopia. In Tat und Wahrheit aber spiegeln solche pädagogische Konzepte schlicht die Wertvorstellungen der neuen Eliten und bemänteln höchst notdürftig deren ausgeprägte Konkurrenzorientierung. Individualisierender Unterricht würde nur dann homogenisierend wirken, wenn er ausdrücklich alle auf die gleichen Ziele hinführen und dabei den Schwächeren sowohl mehr Zeit als auch mehr Zuwendung einräumen würde.
Eine derartige Ausrichtung der Schule würde aber mit Sicherheit als Kuschelpädagogik diffamiert; sie fände weder bei der Wirtschaft Anklang noch würde sie von den Mittelschicht-Eltern toleriert. Diese nämlich sind angesichts einer ungewissen Zukunft der «Bildungspanik» (Heinz Bude) verfallen. Spätestens wenn’s um den Eintritt ins Gymnasium geht, veranstalten sie ein eigentliches Wettrüsten punkto Nachhilfe.
Unlösbare Widersprüche
In einem solchen Umfeld bedeutet Individualisierung faktisch die Förderung der Starken und die mehr oder weniger tröstende Therapierung der weniger Talentierten. Weit davon entfernt, Chancengleichheit herzustellen, verschärft die Ausrichtung auf das einzelne Kind noch die bestehenden Ungleichheiten. Ein individualisierendes Lernumfeld spricht nämlich nicht alle gleichermassen an. Damit Lernimpulse aufgenommen werden, braucht es wiederum bestimmte kulturelle Prägungen.
Kinder, die einen autoritären oder einen diffusen Erziehungsstil gewohnt sind, können mit den gebotenen Freiheiten wenig anfangen: Sie haben Mühe, die Lehrpersonen zu respektieren, deren Zurückhaltung sie als Schwäche empfinden. Zudem fehlt ihnen oft die Fähigkeit zur eigenständigen Fokussierung, welche nun einmal die Basis für selbstverantwortetes Arbeiten bildet.
Nicht anders als damals die kompensatorische Spracherziehung orientiert sich auch das integrative Unterrichtskonzept unreflektiert an Standards der Mittelschicht. So favorisiert es unter der Hand diejenigen Kinder, die damit vertraut sind, während es gerade jene anderen zurücksetzt, an die sich das Versprechen der Chancengleichheit offiziell richtet.
Freiheit versus Gleichheit
Seit den Anfängen stehen die beiden Leitwerte der Aufklärung miteinander im Clinch: Freiheit verträgt sich nicht wirklich mit Gleichheit, weil letztere Konkurrenz impliziert und damit zwangsläufig Differenzen schafft. Die westlichen Gesellschaften bewegten sich über zwei Jahrhunderte hinweg zwischen diesen Gegenpolen, dabei begann das Pendel spätestens nach dem Ersten Weltkrieg nach links auszuschlagen, was in der Nachkriegszeit schliesslich zu einer umfassenden sozialen Integration führte, welche die alten Klassengegensätze zurücktreten liess.
Aber ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts setzte in Wirtschafts- und Sozialpolitik eine Gegenbewegung ein. Ihr Resultat ist ein Konsens, der in der Ungleichheit ein Naturgesetz oder einen Wert an sich sieht. Auch die Liberalen möchten allerdings den egalitären Anstrich nicht missen, der die aufbrechenden Gegensätze überkleistert. Und da kommt ihnen die Schule gerade recht: Sie dient dort als Feigenblatt, wo der politische Wille fehlt, etwas gegen die reale Chancenungleichheit zu unternehmen.
Teure Fassade
Angesichts der ungemilderten Leistungs- und Konkurrenzorientierung fällt der Volksschule eine Alibifunktion zu. Doch der Fassadenzauber kommt sie teuer zu stehen, zumal Chancengleichheit längst nicht die einzige Fata Morgana ist, der sie nachzulaufen hat: Da sind methodische Revolutionen, die bald im Semestertakt Wunder versprechen, und über allem geht das Gespenst der Digitalisierung um, das mit der Drohung mangelnder Berufsqualifikation rasselt für den Fall, dass wir nicht schon die Kleinsten vor den Touch Screen setzen.
Über dieser Verzettelung kommt die Schule immer weniger dazu, basale Kulturtechniken zu vermitteln, worin eigentlich ihre Kernaufgabe besteht. Nach Jürgen Kaube (Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?) tritt heute in Deutschland rund ein Fünftel der Eleven ins Leben, ohne hinreichend alphabetisiert worden zu sein – darunter primär viele Unterschichtskinder, die in der dauerreformierten Institution durch die Maschen fallen. Dies nicht zuletzt darum, weil auch die integrative Pädagogik alles andere als schichtneutral funktioniert. Betrogen sind aber nicht nur die Kinder mit bildungsfernem Hintergrund, sondern kaum weniger jene hoch motivierten Lehrkräfte, die sich durch die schiere Menge an nicht einlösbaren Versprechen verheizen lassen.
Gegen Pseudo-Politik
Die allgemeine Schulpflicht wurde einst im Zeichen der Mündigkeit eingeführt. Die Menschen sollten aus dem Stand der Unwissenheit befreit werden, um informiert am demokratischen Diskurs teilnehmen zu können; insofern zielte die Alphabetisierung ganz direkt auf Chancengleichheit. Wie die weitere Entwicklung zeigt, liess diese sich allerdings durch die Vermittlung kultureller Basics allein nicht herstellen. Chancengleichheit hat letztlich handfestere materielle Voraussetzungen; sie hat viel zu tun mit den eigentums- und marktrechtlichen Verhältnissen.
Doch daran möchte die Mehrheit heute nicht rühren. Und so huldigt man lieber pädagogischem Illusionismus. Die Schule hat’s zu richten, unter anderem durch neue Lehrformen, welche die Zöglinge quasi auf der Direttissima zur Mündigkeit trimmen sollen. Das ist Augenwischerei, genau genommen Pseudo-Politik, die Änderungen dort vornimmt, wo es nicht wehtut, um im Ganzen den Status quo zu erhalten.
Wer im Ernst an Chancengleichheit interessiert ist, der sollte sich gegen den herrschenden wirtschafts- und sozialpolitischen Konsens engagieren. Würden nämlich die realen Ungleichheiten gemildert, so brauchte es auch die Volksschule nicht mehr als Feigenblatt und sie könnte sich wieder ihrer Kernaufgabe zuwenden, den Kindern also Lesen, Schreiben und Rechnen (Kaube) beizubringen, jene elementaren Kulturtechniken, ohne die junge Menschen auch in digitalisierten Gesellschaften ganz einfach verloren sind.