Die allmächtige KP Chinas ist zwar eine kommunistische, leninistische Partei. Sie hat sich jedoch von den ehemaligen „sowjetischen Brüdern“ seit über einem halben Jahrhundert getrennt und emanzipiert. Chinas Kommunisten haben auf der Grundlage ihrer Kultur einen eigenen Weg gefunden. Das gilt insbesondere nach der vom grossen Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping Ende 1978 in die Wege geleiteten Wirtschaftsreform. Die „Sozialistische Marktwirtschaft mit chinesischen Besonderheiten“ war und ist erfolgreich, nicht zuletzt deswegen, weil die KP stets pragmatisch und – dies vor allem – mit langfristigem Denken auf Schwierigkeiten und Krisen geantwortet hat.
„Kritische Übergangsphase“
China befindet sich in einer „kritischen Übergangsphase“, wie Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping wiederholt seit seinem Machtantritt im Herbst 2012 gewarnt hatte. Das Wirtschaftswachstum ist innerhalb weniger Jahre von über zwölf Prozent auf mittlerweile 6,8 Prozent gesunken. Seit drei Jahren wird von Regierung und Partei als offizielle Zielvorgabe ein Wachstum des Brutto-Inlandprodukts (BIP) vorgegeben und jeweils erreicht. Ökonomen vorab im Westen bezweifeln denn seit Jahren immer wieder die Korrektheit dieser vom Nationalen Statistik-Büro veröffentlichten Zahlen. Sie seinen politisch diktiert, lautet der Vorwurf. Doch so einfach ist es nicht.
Zu Maos Zeiten wurden Statistiken in grossem Stil gefälscht. Doch diese wirtschaftlich desaströse Epoche ist längst vorbei. Im modernen China weiss die Regierung, dass ein moderner Staat ohne einigermassen adäquate Zahlen nicht mehr erfolgreich wirtschaftlich und sozial vorangebracht werden kann. Methodische Unterschiede selbst zwischen Statistiken westlicher Staaten sind im Übrigen durchaus normal. Deshalb gilt besonders im Zeitalter des permanenten schnellen News-Rauschens noch immer: das Kleingedruckte lesen.
Selbst wenn das Wirtschaftswachstum nicht die offiziell veröffentlichten 6,8 Prozentpunkte erreichen sollte, sind nach Meinung von westlichen in China arbeitenden Ökonomen vier bis fünf Prozentpunkte ausreichend, um die künftigen Herausforderungen – also etwa Schaffung von Arbeitsplätzen, Renten, Gesundheitsvorsorge – zu meistern. Wie schon Deng Xiaoping denkt auch die gegenwärtige Führung um Xi Jinping in langfristigen Zyklen. In der gegenwärtigen „schwierigen Übergangszeit“ werden kontinuierlich pragmatische Korrekturen vorgenommen. Die beiden neuesten Beispiele: Steuern und Familienplanung.
Familienplanung
Vor drei Jahren wurde die anfangs der 1980er-Jahre eingeführte Ein-Kind-Familienpolitik zugunsten von Familien mit zwei Kindern aufgegeben. Im Ausland und zum Teil im Inland umstritten, hatte das grosse soziale Experiment dennoch sein Ziel erreicht. Das Wachstum der Bevölkerung wurde gebremst. Heute leben in China rund 1,4 Milliarden Chinesinnen und Chinesen. Ohne Ein-Kind-Familienpolitik wären es 1,8 Milliarden, eine Last, mit der China niemals die Armut fast gänzlich hätte eliminieren können.
Mit zunehmender Dauer zeigten sich jedoch auch Nachteile der Ein-Kind-Familienpolitik. Eine Generation von verwöhnten aber auch geforderten Einzelkindern wuchs heran. Zudem steigt Chinas Anteil der Alten rasant. 2010 betrug der Anteil der über 60-Jährigen 13 Prozent, 2017 waren es bereits 14,5 Prozent und 2030 wird es ein Viertel der Bevölkerung sein. Für die ohnehin schon schmalen Leistungen von Renten und Krankenkassen sind das bedenkliche Zahlen. Im Gegensatz zu den Industriestaaten und der Schweiz wird China zuerst alt und erst danach reicher.
Dazu kommt: die Lebenserwartung steigt auch in China. Zur Zeit der Gründung der Volksrepublik 1949 konnten neu geborene Chinesinnen und Chinesen damit rechnen, vierzig Jahre alt zu werden (Im Vergleich: Schweiz 66 Jahre). Heute sind es dank der Wirtschaftsreform mit besseren Lebensbedingungen für Chinesen 74,8 Jahre, für Chinesinnen 77,83 Jahre (Im Vergleich: Schweizer 81,5 Jahre, Schweizerinnen 85,3 Jahre). Tendenz in China weiter steigend.
Chinas Regierung reagiert nun mit den langfristigen Zielen vor Augen schnell. Nach einem Bericht der Parteizeitung „Renmin Ribao“ (Volkszeitung) sollen bald im neuen Zivilgesetzbuch die Vorgaben für die Familienplanung gestrichen werden. Mit andern Worten: Jeder und jede kann entscheiden, wieviele Kinder gewünscht sind. Wie die Zahlen nach dem Übergang von der Ein- zur Zwei-Kind-Familienpolitik jedoch belegen, sind kaum mehr Kinder zur Welt gekommen. Der Grund ist einfach: Ein Kind kostet viel. Miete oder Kauf einer neuen grösseren Wohnung, Kosten für Erziehung, Gesundheitsvorsorge, Rente undsoweiter undsofort fallen ins Gewicht.
Steuerreform
Um solche negative Folgen für das Familien-Budget zu dämpfen und um die Wirtschaft wieder vermehrt anzukurbeln, hat Chinas Regierung nun Ende August einen weiteren Schritt getan. Der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses (Parlament) hat erstmals seit 2011 die Einkommenssteuer gesenkt. Galten bislang 3’500 Yuan pro Monat als minimales steuerbares Einkommen, wurde der Betrag auf 5’000 Yuan (umgerechnet 730 Franken) erhöht. Die Einkommen werden besteuert mit Sätzen zwischen drei und 45 Prozent. Den höchsten Satz hat zu bezahlen, wer 80’000 Yuan (11’500 Franken) und mehr pro Monat verdient. Die Einkommenssteuer generiert nach der Mehrwertsteuer und der Unternehmenssteuer den drittgrössten Fiskalbetrag für Chinas Regierung.
Mit der Steuerreform will die Regierung auch härter und effizienter gegen Steuerhinterzieher vorgehen. Die Lohnabhängigen trifft das nicht, denn ihre Steuern werden beim Arbeitgeber direkt vom Salär abgezogen. Die Selbständigen und Investoren sollen nun aber strenger überwacht werden und an die Kasse kommen. Das gilt insbesondere auch für berühmte Filmstars. Skandale haben nicht selten gezeigt, dass die Schönen und Berühmten jeweils zwei Engagementverträge erhielten. Für die Steuerbehörden einen Vertrag mit einer niederen Summe, einen zweiten mit der richtigen, hohen Summe.
Sparquote und Konsum
Die Steuerreform ist Teil eines Plans der Regierung, die Wirtschaft längerfristig mit mehr Konsum anzukurbeln und zu stabilisieren. Einige Chinesische Ökonomen freilich halten die jetzige Einkommenssteuerreform für zu zaghaft, um dieses Ziel zu erreichen. Die hohe Sparquote – 2015: 47,4% (Schweiz: 31%, USA: 18.2%) – müsste in den nächsten Jahren sinken, um das Konsumwachstum zu beschleunigen.
Ob das eintreffen wird, ist fraglich. Das weitmaschige soziale Netz nämlich führt dazu, dass Chinesinnen und Chinesen für Krankheit und Alter sehr viel mehr auf die hohe Kante legen müssen. Im Gegensatz zu Europa oder Amerika ist deshalb der Anteil des Konsums am Brutto-Inlandprodukt in China mit etwas über fünfzig Prozent relativ gering.
Chinas Partei und Regierung sind jedenfalls überzeugt von den Reformen. Die neuen Massnahmen seien sofort zu implementieren. Oder in den Worten von Premierminister Li Kejiang: „Im Kontext von neuen Entwicklungen im In- und Ausland sind Kürzungen von Steuern und Abgaben wichtig, um die positive Dynamik der fortlaufenden Entwicklung aufrechtzuerhalten.“