Genf hat eine lange populistische Tradition. Da gab es die 1965 gegründete „Vigilance“-Partei, die dann Anfang der Neunzigerjahre verschwand. Die Partei, eng verbunden mit der Schwarzenbach-Bewegung, kämpfte gegen die italienischen Arbeiter und die Internationalen Organisationen. Ihr Slogan war „Bleiben wir Prinzen in unserer Stadt“. 1985 wurde die Partei mit 19 Sitzen im Kantonsrat (Grand Conseil) zweitstärkste Partei im Kanton (nach den Liberalen).
Der damalige Parteipräsident Éric Bertinat hatte in Paris an einem Treffen des Front National teilgenommen und Jean-Marie Le Pen nach Genf eingeladen, was ihm einige Kritik einbrachte. Bertinat gehört heute der SVP an und spielt dort eine wichtige Rolle. 2007 erklärt er am Fernsehen: „Die Homosexuellen bringen der Gesellschaft nichts, weil sie sich nicht reproduzieren können.“
Starke Rechtspopulisten
2005 wurde dann in Genf eine Art Nachfolgepartei für die Vigilance gegründet: Der „Mouvement des Citoyens Genevois“ (MCG) („Genfer Bürgerbewegung“). Gründungsmitglieder waren der ehemalige SVP-Grossrat Georges Letellier und Éric Stauffer, ehemals Mitglied der Liberalen Partei. Der MCG verstand sich als patriotische Partei, entwickelte sich aber schnell zu einer rechtspopulistischen Protestpartei.
Sie hatte schnell Erfolg und wurde zur zweitstärksten Partei im Kanton Genf. Bei den Genfer Kantonswahlen vor fünf Jahren erreichte der MCG 19,21 Prozent der Stimmen und 20 der 100 Sitze im Kantonsparlament. Mit Mauro Poggia wurde erstmals ein MCG-Vertreter in die Genfer Kantonsregierung gewählt. Zuvor sass Poggia vier Jahre lang im Nationalrat. Er ist ist mit einer Nordafrikanerin verheiratet und zum Sufismus übergetreten.
Begnadeter Hetzer
Doch nicht Poggia ist es, der im Mouvement den Ton angibt. Der heute 53-jährige Éric Stauffer, ein begnadeter Hetzer und Populist, dominierte die Partei während Jahren und entwickelte sich schnell zu einem Enfant terrible, das verehrt und gehasst wurde und wird. Einmal musste er von der Polizei aus dem Ratssaal geführt werden, weil er einem Freisinnigen ein Glas Wasser ins Gesicht spritzte.
Doch allmählich begann sein Stern zu sinken. In der Genfer Vorortsgemeinde Onex verlor er den Sitz im Gemeinderat (Conseil administratif). Und vielen in der Partei wurden seine Eskapaden nun doch etwas zu viel. So kam es vor knapp zwei Jahren zum Putsch.
„Ich bin gerne Populist“
Am 26. April 2016 weigerte sich die Partei, Stauffer wieder zum Präsidenten zu küren. An seiner Stelle wurde die weitgehend unbekannte Ana Roch zur Parteipräsidentin gewählt. Stauffer explodierte vor Wut..
Er und vier andere MCG-Kantonsräte verliessen darauf die Partei und figurierten fortan als „Hors parti“, als Parteilose. Im Hinblick auf die jetzigen Wahlen gründete Stauffer im Herbst letzten Jahres eine eigene Partei. In Anlehnung an Macrons „La République en marche“ nennt er sie „Genève en marche“ (GEM). Er wettert gegen die Frontaliers, die Grenzgänger, „die Kriminalität bringen“ und gegen die „Immobilienhaie“, die „die Wohnungen unbezahlbar machen“. Die Genfer sollten auf dem Arbeitsmarkt bevorzugt werden, fordert er. „Ich bin gerne Populist“, sagt er, „wenn Populismus bedeutet, für die einfache Bevölkerung einzutreten“.
Um ins Genfer Kantonsparlament einziehen zu können, muss eine Partei mindestens sieben Prozent der Stimmen erhalten. Ob Stauffers GEM diese Hürde schafft, ist unklar. Sicher ist jedoch, dass seine Partei dem etablierten MCG Stimmen abjagen wird. Doch der MCG mit bisher fast 20 Prozent Stimmenanteil ist kaum gefährdet.
Fade SVP
Und da gibt es noch die SVP, die fast im gleichen Teich wie das Mouvement des Citoyens und Genève en marche fischt. Die Genfer SVP (Union Démocratique du Centre) spielt in Genf keine tragende Rolle; man hört wenig von ihr. Im Gegensatz zur Deutschschweizer SVP ist die Genfer SVP eine fade Truppe. Bei den letzten Wahlen vor fünf Jahren erreichte sie gut 10 Prozent der Stimmen. Einmal mehr ist sie jetzt mit dem Mouvement des Citoyens eine Listenverbindung eingegangen.
Alle drei Parteien werben mit ähnlichen Slogans: Bei der SVP heisst er: „Genève d’abord“ (Genf zuerst), bei Stauffers GEM: „Geneva first“ und beim Mouvement des Citoyens: „Priorité pour les résidents genevois face aux frontaliers (etwa: Zuerst die Genfer Bürger und dann die Grenzgänger).
Die Linke – seit jeher zerstritten
Doch nicht nur die nationalistische Rechte ist in Genf vielschichtig. Die Linke ist seit jeher zerstritten. Neben der SP, die im Kanton Genf die drittstärkste Partei ist, wildern am Linksaussen-Flügel seit Jahren verschiedene Gruppen und Strömungen. Neben der SP gibt es die Partei „Ensemble à gauche“ (EAG), (Gemeinsam links), ein Sammelbecken der marxistischen, linkssozialistischen Bewegung „SolidaritéS“, der „Partei der Arbeit“ und der DAL-Alters- und Mieterschutzgruppe. Die EAG stellt den Genfer Stadtpräsidenten.
Bei den letzten Wahlen errang die Partei 8,75 Prozent der Stimmen, also nur 1,75 Prozent mehr als nötig. Diesmal könnte es eng werden. Vor allem deshalb, weil die Partei bereits gespalten ist. Zwei Abgeordnete haben eine eigene Liste präsentiert. Sie könnten Stimmen abholen, die dem EAG dann fehlen würden.
Stimmungstest für die Schweiz
Auch wenn die Genfer Wahlen viele Eigenheiten aufweisen: sie sind ein Stimmungstest für die ganze Schweiz. Die FDP hatte vor fünf Jahren in Genf fast 4 Stimmenprozent verloren. Kann sie sich jetzt dem nationalen Aufwärtstrend anschliessen? Mit Spannung erwartet die CVP das Ergebnis. Sie ist in Genf mit über 10 Prozent recht stark. Wird sie das Schicksal anderer schweizerischer CVP-Parteien erleben und Stimmen verlieren? Vor allem läuft sie Gefahr, dass einer ihrer zwei Regierungsräte abgewählt wird. Die Grünen hatten vor fünf Jahren mit einem Verlust von über 6 Stimmenprozenten ein Fiasko erlebt. Werden sie sich wieder aufbäumen?
Neben den Wahlen ins Kantonsparlament findet an diesem Sonntag auch der erste Durchgang der Regierungsratswahlen (Kantonsexekutive) statt. Die Stichwahl erfolgt dann am 6. Mai.
Ergebnisse der Wahlen vor fünf Jahren
FDP: 22,36 Prozent
MCG: 19,21 Prozent
SP: 14,35 Prozent
CVP: 10,62 Prozent
SVP: 10,31 Prozent
Grüne: 9,61 Prozent
EAG: 8,75 Prozent
Die Wahlen finden alle fünf Jahre statt. Es gilt die 7 Prozent-Hürde.