Der Mensch ist ein Geschichtenerzähler, und eine der ersten Geschichten ist wohl jene der guten alten Zeit. Wir kennen sie von Hesiods goldenem Zeitalter, von der islamischen Blütezeit, von der Zhou Dynastie des Konfuzius, dem hinduistischen Satya-Yuga-Weltalter, dem Garten Eden, von Grossmutters Kochtopf und Grossvaters Schuppen. Claude Lévi-Strauss erzählt in „Das Rohe und Gekochte“ den Mythos der südamerikanischen Bororo.
Schon früher war früher alles besser
Die Leute lebten früher ohne Krankheit, Hunger, Zwist, bis ein Knabe die Sitten verletzte und sich weigerte, in der Männerhütte zu leben. Worauf ihm seine Grossmutter, während er schlief, wiederholt ins Gesicht furzte, was nun seinerseits eine Kette von unheilvollen Ereignissen auslöste, die Leiden und Krankheiten unter den Menschen verbreiteten.
Die implizite Botschaft: Wenn Kinder nur wie früher gehorchen würden, dann stünde alles zum Besten. Die Logik ist so alt wie die Jäger und Sammler der Jungsteinzeit, die vielleicht von stärkeren und gesünderen Vorfahren fabulierten, weil diese das Fleisch von grösseren Mammuts über dem Herdfeuer brieten. Schon früher war früher alles besser.
Früher gab es bei uns nur uns
Der Mythos des verlorenen Paradieses, so hat der bekannte Märchenforscher Max Lüthi gezeigt, bietet das besänftigende Erzählmodell des Dreischritts von Ordnung zu Unordnung zu Ordnung. Er entsteht „wie von selber aus einem als Mangel empfundenen Zustand, und ebenso die Ausschau nach einem neuen, in der Zukunft liegenden Paradies (...) Schon dass etwas als Mangel empfunden werden kann, setzt ja die Vorstellung eines mangellosen Zustandes zwingend voraus“, schreibt Lüthi. Mangel und Behebung des Mangels ist die Grundformel des Märchens.
Politik braucht diese Grundformel auf weiten Strecken. Gerade in der globalen Dynamik, die althergebrachte Futterale der Identität auflöst, stellen heute viele Menschen Identitätsmangel fest, und diesen Mangel suchen sie mit Geschichten über eine fiktive Identität zu beheben, die sie früher zu haben glaubten, in ihrer Familie, Kultur, Religion, Nation. Dieses Phantasma einer reinen und homogenen Gruppe, in der man aufgehoben war, ist zugleich Balsam und Gift. Denn es braucht Schuldige für die Unordnung. Die Welt ist unordentlich geworden wegen all der fremden Zuzügler in unseren einst so sauberen Gefilden. Die Schuld liegt aber nicht bei uns, denn man erinnere sich: Früher gab es bei uns nur uns.
Je schlechter heute, desto besser früher
In Lüthis Schema passt auch sehr gut die Krisendiagnose. Je schlechter die Welt, in der man lebt, desto besser die Welt früher. „Wenn wir auf Amerika schauen, sehen wir Städte in Flammen und Rauch gehüllt. Wir hören Sirenen in der Nacht. Wir sehen Amerikaner auf fernen ausländischen Schlachtfeldern sterben. Wir sehen Amerikaner, die einander hassen, einander bekämpfen, einander zuhause töten. Und wenn sie diese Dinge sehen und hören, schreien Millionen von Amerikanern in Angst auf. Sind wir dafür den ganzen Weg gegangen?“ – Nein, die Worte stammen nicht vom gegenwärtigen US-Präsidenten, sondern von Richard Nixon in seiner Dankesrede 1968.
Etwas gediegener hört sich diese Krisenbeschwörung im Intellektuellenjargon an, wenn von „Postdemokratie“ die Rede ist. Damit wird ja suggeriert, dass frühere Zeiten demokratischer waren, und mit diesem „Post“ nun eine neue Ära anbricht, die wenig Gutes verheisst. Das trifft ja durchaus punktuell zu, aber erstens meldet die Politikwissenschaft grosse Skepsis an. So schreibt etwa Jan Werner Müller in seinem Essay „Was ist Populismus?“ (2016): „Wie bei vielen ‚Post’-Begriffen ist die Grundidee desto plausibler, je weniger man über Geschichte weiss.“ Und zweitens ist das populistische Missbrauchsrisiko hoch, dass man nun Geschichtsklitterung betreibt und den Wähler mit der Stimmungsmache urdemokratischer Eintracht ködert.
Früher waren wir wer
Die Rückwendung zur guten alten Zeit ist immer auch eine verdeckte Umwertung der Werte, wie wir sie bereits bei Rousseau, dann aber vor allem beim Altmeister Nietzsche beobachten. Nicht bloss aktuelle politische Zustände, sondern zivilisatorische Errungenschaften der Moderne werden aufs Korn genommen. An ihnen haftet auf einmal der Hautgout des Dekadenten, Schwächelnden, Verfallenden. Universelle Zivilisiertheit selbst – wie sie sich etwa in freiheitlichen und demokratischen Werten, in Menschenrechten und Objektivität ausdrückt – erscheint als dünner Film auf einem ursprünglichen und echten Menschsein, das sich vor allem über die Herkunft definiert. Zuerst die Genealogie – dann die Anthropologie. Zuerst das blutvolle Stammes-Wir, dann – wenn überhaupt – das blutleere Menschen-Wir.
Nun verspüren wohl die meisten von uns gelegentlich ein Ziehen nach Zeiten, da vermeintlich alles übersichtlicher, unverdorbener, authentischer war. Dieses Weh (griechisch: álgos) nach dem Zuhause (griechisch: nóstos), wurde vom Schweizer Arzt Johannes Hofer 1688 in seiner Dissertation „Dissertatio Medica de Nostalgia oder Heimwehe“ als eine Krankheit definiert, eben als eine „Sucht“. Und die pathologische Konnotation ist die Nostalgie bis heute nicht losgeworden, wie dies etwa die Studien der Psychologin Krystine Batcho zeigen. Gerade sie hat dazu beigetragen, dass Psychologen nun vermehrt die „normale“ und positive Seite der Sucht hervorzuheben beginnen, zum Beispiel in der Bedeutung der „goldenen Kindheit“ im Bilden des Selbstbewusstseins von Heranwachsenden oder in der Wiederherstellung einer biographischen Kohärenz bei Traumatisierten und Demenzkranken.
Fundamentalismus des Ursprungs
Aber ob pathologisch oder nicht, Nostalgie ist nicht harmlos. So erstaunt und beängstigt immer wieder die Überschussenergie, mit der dieses eher sanfte melancholische Gefühl in Aggressivität und Brutalität umschlagen kann. Zum Beispiel in den Träumen und Visionen einer unverdorbenen Natur. Rückschrittlichkeit und Technikfeindschaft erstrahlen im Glanz eines naturverbundenen Menschentums. Hier spielt auch die Vorstellung unserer eigenen Unverdorbenheit hinein, die Idee eines anderen, nobleren Selbst, das sich nicht mit Zivilisiertheit befleckt sehen möchte.
In den Köpfen von Ökofundamentalisten – etwa der Anhänger der „Earth First“-Bewegung – spukt die Phantasie eines vor-agrarischen Zustands von Jägern und Sammlern herum. Sie legitimieren ihre Aktionen nicht selten im Namen eines quasi-paradiesischen Umweltverhältnisses. Und in der Sicht einer solchen Naturordnung steht dann unversehens der Mensch als Paradieszerstörer da. Als zu entsorgender Unrat.
Eine Art von Immundefekt des Denkens
Gewiss, es handelt sich hier um eine Minorität von Spinnern. Aber endgültig nicht harmlos wird die kollektive Nostalgie, wenn sie den Refrain „Machen wir die Welt, machen wir uns wieder gross!“ intoniert. Vorwärts zurück zu den alten Zuständen! Hier beginnt der faule Zauber zu stinken. Vom Kopf her. Hier wird der Mythos der guten alten Zeit zur infektiösen Falschheit, die unser intellektuelles Immunsystem angreift: eine Art von Aids im Geist. Leicht nutzen machtversesessene Propagandisten in Krisenzeiten diesen Immundefekt, um Sehnsüchte nach vergangener Glorie zu schüren: nach einem Kalifat, nach einem Grossrussland, einem Amerika der weissen Landräuber, einem neu-osmanischen Reich, einer kulturell purifizierten Nation, einem Europa vor dem Sündenfall der EU.
Hellsichtig weist der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr bereits 1932 in seinem Buch „Moralischer Mensch und unmoralische Gesellschaft“ auf den gerade heute wieder vermehrt beobachtbaren Widerspruch zwischen Individual- und Kollektivmoral hin: „Die Frustrationen des Durchschnittsmenschen, der nie die von ihm als Ideal vorgestellte Macht und Ehre erlangt, machen ihn zu einem umso willfährigeren Werkzeug und Opfer imperialer Gruppenansprüche. Der Befriedigungsgrad seiner enttäuschten individuellen Ambitionen wächst mit der Macht und Grösse seiner Nation.“
Ein Lernverweigerungsmittel
Das Irritierendste am Mythos der guten alten Zeit ist, dass wir ihm immer wieder auf den Leim kriechen – als halte uns ein Nostalgie-Modul im Hirn auf Dauersuche nach diesem Zustand. Die Psychoanalytiker haben uns natürlich viel über die Macht des kollektiven Unbewussten zu sagen.
Die Frage bleibt: Warum lernen wir nicht aus der Geschichte? Ich habe eine simple Hypothese: Weil wir nicht lernen wollen; weil das Märchen von der guten alten Zeit ein patentes Lernverweigerungsmittel ist. Es tröstet uns über die Frustrationen historischer Erfahrung hinweg. Es sediert den Realitätssinn. Das wissen die politischen Frustrationsbewirtschafter instinktiv. In schlechten Zeiten hören wir diesen Maulherostraten gerne zu. Und wiederholen fröhlich die Fehler von früher.