„Ein Leben lang bin ich für meine Partei eingestanden“, erzählt er. „Ich habe keine Wahl und keine Abstimmung verpasst“. „Les Radicaux“ heissen in Genf die Freisinnigen, und Pierre ist ein Radikaler. Doch jetzt eigentlich nicht mehr. „Quelle honte" sagt er. Welche Schande.
Die Genfer Freisinnigen haben wenig mit dem Deutschschweizer Freisinn gemeinsam. Der Zürcher „Goldküsten-Freisinn“ ist ihnen ein Greuel. Die Genfer Radikalen gleichen oft einer Linkspartei. Sie haben viele Forderungen der Sozialisten übernommen. Der regulierende Staat spielt für sie eine wichtige Rolle. Schon der Gründer des Genfer Freisinns glaubte an den Staat.
Stürmung des Parlaments
James Fazy, ein Journalist und begnadeter Polemiker, war es, der "les Radicaux“ Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet hatte. Zwei Mal putschte er mit seinen Anhängern gegen das „ancien régime“: gegen die verkrusteten Machthaber, denen Demokratie ein Horror war. Der erste Putsch misslang, der zweite glückte.
Im Oktober 1846 stürmten Fazy und seine Kollegen das Parlament, organisierten eine Grossdemonstration und vertrieben die Konservativen. Fazy setzte das allgemeine Wahlrecht durch und trug wesentlich zur geistigen Öffnung der Calvinstadt bei. Er führte auch die Glaubensfreiheit ein und schuf eine erste Form einer AHV. Er war es auch, der massgeblich daran beteiligt war, dass die Eidgenossenschaft das heutige Zweikammern-System besitzt. Zwar war nicht alles so edel im Tun des cholerischen James Fazy; am Schluss seines Lebens musste er gar nach Frankreich flüchten. Doch seine Verehrung dauert bis heute an.
„Les Radicaux“ dominierten über Jahrzehnte die Republik am untern Zipfel des Genfersees. Die Freisinnigen waren hier die Partei des Mittelstandes, der Beamten, vieler städtischer Intellektueller, aber auch der Bauern und Winzer. Immer wieder brachen innerparteiliche Konflikte zwischen Stadt und Land auf. Die lange Dominanz führte auch zu Abnützungserscheinungen und zur Behäbigkeit.
Dünkelhafte Dekadente
Auch wenn sie pointiert linke Züge aufweist, so war der Genfer Freisinn doch eine klar bürgerliche Partei. Allerdings nicht allein. Ende des 19. Jahrhunderts formierten sich in Genf die Liberalen. „Les Libéraux“ wurden zur Partei der Grossfinanz, der Banken, der Reichen und Bessergestellten. Ideologisch waren sie das, was der Zürcher „Goldküstenfreisinn“ einst war. Die Genfer Linke verspottete die Liberalen als „dünkelhafte Dekadente“. Sie würden die schönsten Wohnungen hoch oben in der Genfer Altstadt bewohnen und die Polizei drücke ein Auge zu, wenn sie ihre teuren Autos mitten auf den Trottoirs parkierten. Natürlich stimmen solche Klischees nur noch teilweise.
Zwar gingen die Radikalen und die Liberalen bei Wahlen meist eine Allianz ein – zusammen mit der CVP, die in der Calvinstadt eher unbedeutend ist. „Entente“ nannte sich dieser wahltaktische Zusammenschluss. Doch nach den Wahlen ging man sich wieder aus dem Weg: Freisinnige und Liberale mochten sich nicht, seit jeher. Wenn die Sozialisten bei Wahlen einen Sitz verloren, so freuten sich die Freisinnigen. Doch sie freuten sich noch viel mehr, wenn die Liberalen einen Sitz verloren.
Vor wenigen Wochen eskalierte der Streit. Da begingen die Liberalen ein schreckliches Sakrileg: sie kollaborierten mit der Genfer SVP. Für viele Freisinnige war dies ein Verrat an hehren bürgerlichen Prinzipien – und zudem ein Kniefall vor den „aggressiven Deutschschweizern“ und der "aus Zürich gesteuerten SVP".
"Herr Pelli und sein Wischi-waschi-Kurs"
Und jetzt also dies: Die Genfer Freisinnigen und die Liberalen heiraten. Auf nationaler Ebene mag das ja gehen, aber in Genf? An zwei getrennten Parteiversammlungen haben die Radikalen und Liberalen am Dienstagabend beschlossen, ihre Parteien aufzulösen und zu fusionieren. PRL soll die neue Partei heissen: Parti libéral-radical. Der Entscheid fiel in beiden Parteien überraschend klar. Doch an der Basis rumort es.
Pierre aus Satigny ist nicht der Einzige, der den Untergang seiner „alten guten Partei“ betrauert. Genf verliert ein Stück seiner Eigenart, sagt Anne, deren Urgrossvater schon für „les Radicaux“ gestimmt hatte. Der Historiker Bernard Lescaze erinnerte an James Fazy und all die andern grossen Freisinnigen. „Dies ist eine Beerdigungszeremonie“ rief er in den Saal.
Auch auf liberaler Seite gibt es böse Stimmen: „Wir sollen ja nur Stimmen-Futter für Herrn Pelli und seinen Wischi-waschi-Kurs werden“, erklärt Philippe, der am gestrigen Parteitag „Nein“ gestimmt hat.
Kampf gegen den Populismus
Schon kommt in beiden Parteien Angst auf, dass sie von der andern überfahren wird. Wenn zwei Parteien fusionieren, wird einer von zwei Parteiposten überflüssig. Wer muss über die Klinge springen? Wer stellt den neuen Parteipräsidenten? Die beiden bisherigen Parteipräsidenten haben entschieden, dass keiner von ihnen das höchste Parteiamt anstrebt. Das ist eher eine Vertagung eines schwierigen Problems als eine Lösung.
Die liberal-radikale Heirat ist eine Zwangsheirat. Die Fusion sei die einzig mögliche Antwort im Kampf gegen die populistischen Strömungen im Kanton, sagte Philippe Grumbach, ein Anwalt.
Tatsächlich stehen in Genf alle traditionellen Parteien unter Druck. Das populistische Mouvement des citoyens genevois (MCG) hat im März bei den Legislativwahlen in allen Genfer Gemeinden stark an Terrain gewonnen. Das MCG hat die Zahl der Gemeindeabgeordneten fast versechsfacht. Die Linke dominiert zwar nach wie vor die Genfer Stadtregierung. Sie hat aber erstmals seit 24 Jahren die Mehrheit im Stadtparlament verloren. Die eher neue SVP kommt nicht recht vom Fleck – wohl wegen der Gewinne des MCG.
Und die Radikalen? Und die Liberalen? Nach der Fusion auf nationaler Ebene sind sie in Genf im März erstmals mit einer „Liberal-radikalen Liste“ in die Wahlen gegangen – sozusagen als Testlauf. Das Resultat ist ernüchternd. Von den bisher 202 Legislativsitzen verloren sie deren 36: Test missglückt.
Der freisinnige Architekt und Kantonsrat Michel Ducret nannte am Dienstagabend die Fusion „einen politischen Selbstmord“. Und Pierre aus Satigny sagt: „Anstatt gemeinsam stark zu werden, gehen wir jetzt gemeinsam unter“.