Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die im Gefängnis sitzende und laut ausländischen Ärzten unter einem schweren Bandscheiben-Schaden leidende frühere ukrainische Ministerpräsidenten Julia Timoschenko ist kein Unschuldsengel. Sie ist auch nicht jene selbstlose politische Freiheitsheldin, als die sie sich selber gerne stilisiert. Ungeachtet ihrer mädchenhaften blonden Zopf-Frisur hat sie im Laufe ihrer bewegten geschäftlichen und politischen Karriere bewiesen, dass sie von einem unbändigen Machtwillen beseelt ist, mit harten Bandagen zu kämpfen weiss und vor dubiosen oder gar korrupten Manipulationen zur Durchsetzung der eigenen Interessen kaum zurückschreckt.
Mitverantwortung am Scheitern der „orangen Revolution
Dass die Ende 2004 so hoffnungsvoll begonnene „orange Revolution“ in der Ukraine schon nach wenigen Jahren so kläglich gescheitert ist, daran trägt Julia Timoschenko ein gerütteltes Mass an Mitverantwortung. Dass sie und ihr ehemaliger Verbündeter Viktor Juschtschenko nicht die Grösse aufbrachten, sich zu konstruktiver Kooperation zusammenzuraufen, anstatt sich gegenseitig spinnefeind zu bekämpfen, gehört zu den ganz traurigen Kapiteln der noch jungen unabhängigen Ukraine.
Dennoch ist Timoschenkos Verurteilung im vergangenen Herbst zu sieben Jahren Gefängnis wegen eines Gasvertrages, den sie 2009 mit dem russischen Ministerpräsidenten Putin geschlossen hatte, ein schreiendes Beispiel von politisch gesteuerter, selektiver Willkürjustiz seitens des Regimes von Präsident Janukowitsch, das seit 2010 die Macht in der Ukraine ausübt. Der Vorwurf, Timoschenko habe als damalige Ministerpräsidentin mit diesem Gasvertrag ihre Amtsbefugnisse überschritten und damit ihrem Land schweren Schaden zugefügt, ist juristisch hanebüchern – zumal die jetzige Kiewer Regierung den Vertrag keineswegs sofort gekündigt hat.
Kritik auch aus dem Kreml
Über diesen Vorwurf ist auch der Vertragspartner in Moskau pikiert, weshalb sowohl Putin als auch der noch amtierende Präsident Medwedew gegen die Verurteilung Timoschenkos – sowie eine Reihe weiterer ehemaliger Regierungsmitglieder – unerwartet laut und energisch protestiert haben. Dies obwohl Putin und seine Entourage in vielen Fragen gar nicht gut auf die ehemalige Bannerträgerin der „orangen Revolution“ zu sprechen waren und Janukowitsch als neuer Präsident in Kiew lange Zeit als Wunschkandidat des Kremls galt. Schon deshalb sind die kritischen Töne aus dem Kreml zu der farcenhaften Justiz-Inszenierung in Kiew nicht selbstverständlich. Kommt hinzu, dass auch in Putins Russland das politische Machtinstrument der selektiven Justiz keineswegs völlig fremd ist – man denke nur an die Prozesse gegen den einst reichsten russischen Oligarchen Michail Chodorkowski.
Die Gründe, weshalb das Janukowitsch-Regime trotz deutlichen Warnungen vor den politischen Folgen darauf beharrte, Julia Timoschenko den Prozess zu machen und für lange Jahre hinter Gitter zu stecken, sind nicht allzu schwer zu durchschauen. Offenbar spielt einmal das Rachebedürfnis Janukowitschs und seiner Kamarilla gegenüber der politischen Rivalin eine Rolle. Diese hatte 2004 als eine Gallionsfigur der „orangen Revolution“ wesentlich dazu beigetragen hatte, dass ihm damals der gefälschte Wahlsieg wieder entrissen wurde. Ausserdem rechnet man im Janukowitsch-Lager damit, durch die Verurteilung Timoschenkos eine gefährfliche Herausforderin bei der nächsten Präsidentenwahl ausgeschaltet zu haben.
Empfindliche Stelle für Janukowitsch
Schliesslich dürften jene Oligarchen darauf gedrängt haben, die streitbare Politikerin hinter Schluss und Riegel zu bringen, denen sie mit ihrem Gasvertrag von 2009 eine lukrative Einnahmequelle als Zwischenhändler verstopft hatte. Dieser Zwischenhandel lief vor allem über die in Zug domizilierte dubiose Firma RosUkrEnergo, an der der ukrainische Krösus Firtasch als ein Hauptaktionär beteiligt ist. Als Janukowitsch 2010 die Präsidentschaft übernahm, konnte bezeichnenderweise die zuvor ausgeschaltete Zuger Firma wieder ungehindert in das zwielichtige Zwischenhandelsgeschäft einsteigen.
Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel und andere Politiker aus dem EU-Raum, die dem Janukowitsch-Regime nun einen Boykott der Fussball-EM-Spiele androhen, die im Sommer in der Ukraine stattfinden sollen, dürften die Kiewer Machthaber an einer empfindlichen Stelle treffen. Janukowitsch hat sich aussenpolitisch isoliert und auch im Innern schmilzt die Zahl jener Anhänger, die ihm zugetraut hatten, das Land voranzubringen. Natürlich hofft die Regierung, mit einem gelungenen Fussballfest (die andere Hälfte der EM findet in Polen statt) ihr angeschlagenes Prestige wieder etwas aufzumöbeln.
Wie genau die Fussball-EM in der Ukraine boykottiert werden soll, muss vorläufig nicht genauer definiert werden. Es genügt, eine allgemein formulierte Drohung in die Diskussion zu werfen und erste Zeichen zu setzen. So hat der deutsche Bundespräsident Gauck bereits seine Teilnahme an einem im Mai geplanten Treffen europäischer Präsidenten in Jalta abgesagt, bei dem Janukowitsch Gastgeber ist. Sollte das Kiewer Regime in nächster Zeit nicht klares Entgegenkommen zur Entschärfung des Justizskandals um Timoschenko zeigen – zum Beispiel durch Einwilligung zu einer angemessenen Spitalbehandlung im Ausland – kann Berlin und die EU die Schrauben durch konkretere Boykott-Pläne anziehen. Selbst die Absage von EM-Spielen in der Ukraine sollte nicht ausgeschlossen werden.
Heuchelei?
Nun mag man einwenden, der Empörungs-Wirbel um den Fall Timoschenko entbehre nicht der Heuchelei. Schliesslich habe kein führender europäischer Politiker zum Boykott der Olympischen Spiele in China aufgerufen, obwohl dort zweifellos nicht weniger politische Willkür-Justiz betrieben und wird als in der Ukraine. Solche Argumente sind ernst zu nehmen. Doch auf der andern Seite gilt es in Rechnung zu stellen, dass die Ukraine ein europäisches Land ist und sich erklärtermassen um eine stärkere Integration in die EU bemüht – ein Assoziierungsabkommen mit Brüssel liegt fertigt auf dem Tisch, die Unterschrift wird nur durch die offene Justizwillkür im Fall Timoschenko verzögert.
Gewiss ist dieser Fall bei weitem nicht das einzige Beispiel für die eklatanten Verstösse gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine. Aber er ist wegen der Prominenz der früheren Regierungschefin und der offenkundigen politischen Motive ihrer Verurteilung nun einmal zu einem Testfall für die Lernfähigkeit des Janukowitsch-Regimes geworden. Aus den ungemütlichen Zwängen dieser selbst eingebrockten Test-Situation sollten die Europäer die Kiewer Kamarilla nicht so leicht entschlüpfen lassen.
Im Interesse einer europäischen Annäherung
Es ist sinnvoll, gegenüber den Machthabern in dieser ehemaligen Sowjetrepublik anhand einer europäischen Veranstaltung auf die Grenzen ihrer Machtwillkür aufmerksam zu machen, denn die Ukraine ist für eine vertiefte Integration in Europa keineswegs ein hoffnungsloser Kandidat. Entgegen manchen Prognosen nach dem Auseinanderbrechen des Sowjetimperiums ist die staatliche Eigenständigkeit der Ukraine – flächenmässig das grösste Land, das geographisch ganz zu Europa gehört – nicht mehr in Frage gestellt. Trotz allen schweren Mängeln dürfte das Bewusstsein der politischen Zugehörigkeit zu Europa in der Ukraine in den vergangenen zwei Jahrzehnten breitere Wurzeln geschlagen haben, als beim östlichen Nachbarn Russland.
Die „orange Revolution“ ist zwar fürs erste gescheitert, aber sie hat das politische Denken dennoch tiefer beeinflusst, als manche ihrer Kritiker und enttäuschten Anhänger vermuten. Ukraine heisst Grenzland. Es liegt im langfristigen Interesse der Ukrainer und seiner Nachbarn, wenn aus diesem Grenzland allmählich auch im politischen Sinne ein europäisches Land wird. Gut dosierter Druck zur Einhaltung europäischer Rechtsgrundsätze kann für diesen Prozess nur förderlich sein.