Der Würfel ist gefallen. Die Muslimbruderschaft hat einen ihrer drei stellvertretenden Führer zum Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen Ägyptens ernannt.
Es ist Khairat al-Shatir, Ingenieur und Geschäftsmann, der Leiter einer Computer-Firma, der Jahre in den ägyptischen Gefängnissen zugebracht hat. Das letzte Mal war er für sieben Jahre verurteilt worden, doch insgesamt soll er zwölf Jahre im Gefängnis gesessen haben.
Dies hat den heute 61-Jährigen nicht daran gehindert, zehn Kinder zu zeugen und ein grosses Vermögen zu erwerben. Er galt bisher als der wichtigste Financier der Bruderschaft und als ihr hervorragendster Fachmann in Wirtschaftsfragen. Er hat auch die Wirtschaftsplattform im politischen Programm der Bruderschaft entscheidend mitgeprägt.
Macht für die demokratisch Gewählten!
Die Ernennung bedeutet, dass die Bruderschaft sich für eine Vorwärtspolitik entschieden hat, die darauf hinzielt den bevorstehenden Machtkampf mit den Armeeoffizieren anzupacken und keine Kompromisse mit ihnen in Fragen der Demokratie einzugehen.
In der geheimen Abstimmung der Shura, des leitenden Rates der Muslimbrüder, der aus 108 Mitgliedern besteht, sollen, wie Reuters vertraulich mitgeteilt wurde, 56 für die Ernennung al-Shatirs und 52 gegen sie gestimmt haben. Doch, wie der Leiter der Bruderschaft, Mohamed Badie, der Öffentlichkeit mitteilte, hätten nach der Abstimmung jene, die gegen ihn stimmten, "ihre Meinung gewechselt", und sie stünden nun auch hinter ihm.
Die Gründe der Bruderschaft
Da die Bruderschaft zuvor während des ganzen Jahres seit der Revolution immer wieder versprochen hatte, sie werde keinen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaft aufstellen, mussten ihre Sprecher erklären, warum sie sich nun für das Gegenteil entschieden habe.
Mohamed Morsi, der Vorsitzende der Partei der Muslimbrüder "Freiheit und Gerechtigkeit" sagte wörtlich: „Das Parlament ist auf Hindernisse gestossen, die Forderungen der Revolution zu verwirklichen. Deshalb haben wir den Weg der Präsidentschaft gewählt. Nicht weil wir gierig auf Macht wären, sondern weil wir eine Mehrheit im Parlament haben, die nicht in der Lage ist, ihre parlamentarischen Pflichten zu erfüllen." Er fügte hinzu, dass seine Partei keine Konfrontation mit der Armeeführung suche.
Keine vom Parlament ernannte Regierung
Für Nicht-Ägypter müssen diese Worte ausgelegt werden. Das Parlament unter Führung der Mehrheitspartei "Freiheit und Gerechtigkeit" hatte den Rücktritt der bestehenden Regierung Ganzouri gefordert, und zwar mit der Begründung, der Ministerpräsident und seine Minister seien erwiesener Massen nicht fähig, die Reformen durchzuführen, welche die Revolution verlange. Dazu gehört in erster Linie eine Reform der Polizei und der Sicherheitskräfte und des gesamten Innenministeriums. Allgemeiner ausgedrückt: Reformen der gesamten Bürokratie, auch und besonders des Rechtswesens und der Arbeitsgesetzgebung. Die Korruption müsse bekämpft und die wirtschaftlichen Mono- und Oligopole zerschlagen werden. Doch die Militärführung hatte erwidert, die Regierung Ganzouri, die von ihr eingesetzt worden war, bleibe im Amt bis nach den Präsidentschaftswahlen.
Verhandlungsversuche mit dem Militärrat (SCAF)
Dies war die Konfrontation im öffentlichen Bereich gewesen, über welche offen berichtet wurde. Auf sie beziehen sich die Erklärungen der Bruderschaft in erster Linie.
Was im Hintergrund zwischen der Militärführung (SCAF) und der Leitung der Muslimbrüder vorging, ist nicht genau bekannt. Doch es gibt Indizien, die erklären könnten, um was es bei den genannten „Hindernissen“ geht. Vertreter der Mehrheitspartei und des SCAF verhandelten nicht nur über die Frage des geforderten Rücktritts der Regierung, sondern auch über die Möglichkeit, einen Präsidentschaftskandidaten zu finden, dem beide Seiten zustimmen konnten.
Kein brauchbarer Kompromiss mit dem SCAF
Diese Verhandlungen verliefen im Sand. Offenbard deshalb, weil die Militärs darauf bestehen, Kandidaten zu bestimmen, von denen die Brüder fürchteten, sie würden das Parlament weitgehend blockieren und versuchen, wie dies unter Mubarak geschah, mit Hilfe der Militärs die wahre Macht auszuüben. Das Parlament jedoch würden sie nur als machtlose politische Bühne benutzen.
Der während der Revolution auf kurze Zeit ernannte Vizepräsident Mubaraks und langjährige Geheimdienstchef des vergangenen Regimes, General Omar Solaiman, dürfte eine der Personen gewesen sein, die die Militärs ins Auge fassten. "Wählbar" würden er und Leute wie er allerdings nur, wenn die Wahlen massiv gefälscht würden, wie dies unter Mubarak immer wieder vorkam. Man fürchtete, die Militärs würden Ministerpräsident Ganzouri im Sattel halten, um Wahlfälschungen durchzuführen.
Neue Wahlrechnungen
Die Ernennung eines Präsidentschaftskandidaten der Muslimbrüder verändert alle bisherigen Wahlprognosen. Neben Khairat al-Shatir werden nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge mindestens drei weitere "islamistische" Kandidaten auftreten. Sie werden die Stimmen der Islamisten, Brüder und Salafisten im ersten Wahldurchgang aufspalten. Eine Stichwahl dürfte dann notwendig werden.
Sie wird sich vermutlich zwischen einem Kandidaten säkularer Ausrichtung und einem der Islamisten abspielen, am wahrscheinlichsten al-Shatir. Wenn sich dann, wie vorauszusehen, alle Islamisten hinter ihren Kandidaten stellen und alle Säkularisten hinter den Ihren, würde wahrscheinlich der Islamist, also al-Shatir, gewinnen. Die Ergebnisse der Parlamentswahlen, die ein Übergewicht der Islamisten ergaben, sprechen dafür.
Islamisten gegen Säkulare
Diese voraussehbare Entwicklung für die Präsidentenwahl hat den Nachteil, dass sie schon jetzt, im Vorfeld der Wahl den heute bereits bestehenden, gefährlichen Graben zwischen den Islamisten und den Säkularen weiter vertieft. Gefährlich ist dieser Graben in erster Linie, weil er droht, die politische Diskussion zu monopolisieren. Alles wird sich um ihn drehen. Sogar alle die praktischen Fragen, die dringend Aufmerksamkeit und Lösungen fordern, drohen in den Schatten dieser publikumswirksamen Grunddiskussion zu geraten und durch sie verzerrt zu werden.
Der zweite Nachteil einer derartigen Spaltung in zwei "ideologische" Lager liegt darin, dass sie der immer noch sehr konkret vorhandenen Macht der Militäroffiziere die Möglichkeit bietet, politische Partner zu finden. Diese könnten sie dann einsetzen, um erneut in den politischen Prozess einzugreifen. Dies, wenn sich die Militärs wirklich an das gegenwärtig geltende Versprechen halten werden, auf den 1. Juli die Macht abzugeben.
"Keine" juristischen Hindernisse
Es gibt in Ägypten gesetzliche Vorschriften, nach denen ein ehemaliger Strafgefangener nicht Präsident werden kann. Die Sprecher der Bruderschaft haben jedoch erklärt, die von ihnen zugezogenen Juristen seien der Ansicht, dass diese Vorschriften kein Hindernis für ihren Kandidaten darstellten. Doch ob es nicht doch zu Versuchen kommt, den Kandidaten der Muslimbrüder auf juristischem Weg zu blockieren, bleibt abzuwarten.
Der Vorwurf der Machtgier
Die ersten Reaktionen der säkularen Parteipolitiker liegen schon vor. Ahmed Said, der Vorsitzende der Ägyptischen Sozialistischen Partei, liess verlauten, die Ernennung eines eigenen Präsidentschaftskandidaten durch die Muslimbrüder mache klar, dass ihre Partei nur ein Ziel habe, nämlich alle Macht an sich zu reissen. Derartige Anklagen sind auch von den anderen säkularen Parteien zu erwarten. Sie sind ohnehin schon auf die Islamisten erbost, weil sie ihnen vorwerfen, den kürzlich ernannten 100-köpfigen Verfassungsausschuss zu dominieren.