Wer als schweizerische Europäerin zuverlässig orientiert sein will, muss über die Landesgrenzen hinausblicken auf EU-weite Plattformen. Nicht weniger wichtig sind die Medien der EU-Mitgliedstaaten. Dort wird die Europäische Union als eine ganz normale politische Ebene wahrgenommen, die dem eigenen Land teilweise übergeordnet ist und auf welcher genauso agiert werden kann und muss wie im nationalen Rahmen. Eine solche normale Sicht können einem nur wenige der schweizerischen Medien vermitteln.
Traum von einer grossen Schweiz
Im Vorfeld des Jahreswechsels war auf dem Sender Deutschlandradio ein Kommentar Andreas Rinkes, des Chefkorrespondenten des deutschen Dienstes der Nachrichtenagentur Reuters, zu hören. Er fällte ein geradezu vernichtendes Urteil über die EU-Aussenpolitik der Regierung Merkel. Der Wortlaut des Beitrags ist auf der Webseite des Senders nachzulesen. Aufhorchen lässt der immer wieder eingestreute Vergleich mit der Schweiz, und dies durchaus im negativen Sinne: «Viele Deutsche träumen immer noch davon, Bewohner einer grossen Schweiz sein zu können – eines Landes, das ausser für sich selbst keine grosse Verantwortung trägt.»
Hauptkritikpunkte sieht der Kommentator in der verweigerten Zusammenarbeit Deutschlands mit dem französischen Präsidenten, die dringend nötig wäre, um die EU voranzubringen. Grund dafür seien veraltete ideologische Positionierungen auf beiden Seiten des politischen Spektrums und generell der Rückfall in alte nationale Argumentationsmuster. Der Kommentator wirft der deutschen Regierung nicht weniger vor als eine Verweigerung deutscher Mitverantwortung für die EU – ein harter Vorwurf.
Die Blaupause «Schweiz» für eine solche Verantwortungslosigkeit muss zu denken geben. Wer redet denn schon in der Schweiz über Verantwortung für die EU? Und von was genau träumen eigentlich – immer aus der Sicht des deutschen Kommentators – die Deutschen? Warum könnte ihnen gerade die Schweiz als Blaupause vorschweben? Der schweizerischen Verweigerung der Verantwortung für die EU liegt eine eigentliche Politikverweigerung zugrunde. Die Schweizer träumen den Traum von einem politikfreien Europa, in das man sich nur wirtschaftlich integrieren könne, möglichst frei von politischen Rahmenbedingungen. Objektiv gesehen ist das natürlich eine Illusion, eben ein Traum. Aber jene Deutschen, von welchen der Kommentator spricht, träumen genau diesen Traum mit.
Konsequenzen des Nicht-Handelns
EU-Politik ist kompliziert. Sie ist vor allem deshalb komplizierter als nationale Politik, weil sich die EU in einem Feld zwischen Staatenbund und Bundesstaat bewegt. Ein Bundesstaat wird sie nicht werden, aber ein Staatenbund kann sie nicht bleiben. Sie ist längst darüber hinausgewachsen. Im Zusammenspiel zwischen dem Europäischen Rat, dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission ist immer wieder politischer Erfindungsgeist und Kompromissfähigkeit gefragt. Europapolitik kann man nur aus einer Mehrebenen-Identität heraus betreiben. Aber ist denn diese Art der politischen Identität den Schweizerinnen und Schweizern aus dem Zusammenwirken von Bund, Kantonen und Gemeinden nicht bestens vertraut? Um so schlafwandlerischer mutet deshalb der Traum von einem politikfreien Europa an.
Zurück nochmals zum deutschen Kommentar, der mit klaren Forderungen schliesst: Die deutsche Regierung, die am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, müsse die EU nicht nur zusammenhalten. Sie müsse auch die Kraft entwickeln, Europa 2020 entscheidend voranzutreiben. Die EU müsse möglichst schnell ihre Souveränität in vielen Bereichen verteidigen oder überhaupt erst einmal entwickeln. Und dann: «Alternativlos ist diese Entwicklung keineswegs. Die Deutschen können ihren Traum einer grossen Schweiz und der eigenen Unschuld weiter träumen. Dann allerdings würde sich zeigen, dass es auch eine Verantwortung für Nicht-Handeln gibt. Denn dann würde die EU 2020 endgültig zum Spielball der Supermächte USA und China werden.»
Mitverantwortung für die EU
Ein schon zuvor erschienener schweizerischer Beitrag schlägt ähnliche Töne an. Eine Liste der grossen helvetischen Baustellen beginnt mit dem Verhältnis Schweiz–EU. Der Journal-21-Artikel von Christoph Zollinger kritisiert die Sicherheit vieler Medien, dass das ausgehandelte Rahmenabkommen Schweiz–EU in einer Volksabstimmung ohnehin abgelehnt würde. Ob sich die Medien nicht auch diesmal täuschen könnten, wenn nämlich das Volk eher das Ganze als die Partikularinteressen im Fokus hätte? «Abwarten und Tee trinken könnte sich eines Tages rächen», so die klare Aussage.
Dem deutschen Nicht-Handeln und dem schweizerischen Tee-Trinken ist etwas gemeinsam: Politikverweigerung und Verweigerung der Wahrnehmung von EU-Verantwortung. «Schicksalsjahr für Deutschland und die EU» lautet der Titel des deutschen Kommentars. Für die Schweiz dürfte es das Entscheidungsjahr über das Rahmenabkommen werden. Die eigentliche Schicksalsfrage aber wird sich im nun angebrochenen Jahrzehnt entscheiden. Es ist die Frage nach der Schweiz in ihrer Verantwortung für die EU. Und diese Verantwortung kann die Schweiz nur als Mitglied der Europäischen Union wahrnehmen. Auch die Schweiz wird lernen müssen, dass sich Politikverweigerung auf Dauer nicht durchhalten lässt. Dies ist eine Einsicht, die dieses Land in seiner langen Geschichte immer wieder hat gewinnen können.