Mehr als 22’000 Mal soll er gelogen haben, und der Zähler rattert ungebremst weiter. Die «Washington Post» dokumentiert seit 2016 sämtliche «falschen oder irreführenden Aussagen» des Noch-Präsidenten. Doch der Skandal des notorisch lügenden Präsidenten hat sich erstaunlich bald verbraucht. Gegen die Abstumpfung der Öffentlichkeit kam die moralische Erbsenzählerei nicht auf. Auch die im Vorfeld der Präsidentschaftswahl an verschiedenen Stellen in New York City installierten «Walls of Lies» nahmen sich im Wahlkampf bloss wie Farbtupfer aus.
Lügen in der Politik, das ist selbstverständlich nicht erst seit Trump ein Thema. Grosszügiger Umgang mit Wahrheit – von der schlampigen Verschleierung bis zur gezielten Fälschung, von der schlitzohrigen Tatsachenverdrehung bis zur schamlosen Erfindung – gehört seit jeher zum Arsenal politischen Handelns. Und selbstverständlich ist das Urteil, was falsch und richtig, was gelogen und wahr sei, fast immer auch von politischen Interessen und Standpunkten bestimmt.
Sozialgeschichte der Aufrichtigkeit
Vor elf Jahren habe ich an anderer Stelle das Buch «Lüge als Prinzip» des Soziologen Wolfgang Engler rezensiert. Es hat mich gereizt, diese geistes- und sozialgeschichtliche Monographie zum Thema Aufrichtigkeit jetzt, nach vier Jahren Donald Trump, nochmals hervorzunehmen und an Englers Überlegungen auf dem heutigen Stand der Erfahrung neu anzuknüpfen.
Das Ideal der Aufrichtigkeit ist ein Kind der europäischen Aufklärung. Ursprung und Blüte dieser als Gegenpol zu höfischem Verhalten verstandenen bürgerlichen Tugend liegen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Im selbstbewusst werdenden Dritten Stand reifte damals die Vorstellung einer Sozietät mündiger Persönlichkeiten heran. In bewusster Frontstellung gegen Klerus und Aristokratie wollten sich Menschen sans phrase die Gewissheit eines aufrichtigen Umgangs gegenseitig zusichern und so einen Raum der Freiheit, Gleichheit und Verantwortlichkeit schaffen.
Wie jede Utopie war auch diese nur in Ansätzen realisierbar. Dennoch entfaltete sie weitreichende emanzipatorische Wirkungen. Die Verachtung des Höflings, dieses Inbegriffs des verbogenen Menschen, bedeutete eine Absage an die ständische Gesellschaft. In diesem Denken wurzelt auch die Idee der Menschenwürde, die ihrerseits mit dem Ideal aufrichtiger Kommunikation untrennbar verbunden ist.
Doch Aufrichtigkeit gehört nicht allein in die Sphäre des Utopischen. Sie kann sich auf eine menschliche Disposition zur Empathie stützen: Wir versetzen uns unwillkürlich in gefährdete, bedrängte Menschen, deren Lage uns – etwa im Kino – eindringlich vor Augen geführt wird. Auf die moralische Zwickmühle der Fiktion (wir sind dabei, ohne eingreifen zu können) reagieren wir mit Gänsehaut und feuchten Händen. Es drängt uns, zu Hilfe zu kommen, Intrigen aufzulösen, aufrichtig zu handeln. Dieser humanen Grundausstattung ist es zuzuschreiben, dass Menschen im Allgemeinen recht gut fähig sind, auch feinste Unstimmigkeiten in Tonfall, Mienenspiel und Körpersprache zu registrieren und vorgetäuschte Aufrichtigkeit zu enttarnen.
Aufklärerischer Zwang, romantischer Überschwang
Allerdings führte das Bemühen, das Ideal der Aufrichtigkeit zur gesellschaftlichen Norm zu machen, auch zu Fehlentwicklungen. Düster nimmt sich etwa der pädagogische Furor aus, mit dem aufklärerische Erzieher kindliche Seelen zu unbedingter Wahrhaftigkeit und selbstloser Aufrichtigkeit abzurichten versuchten.
Eine andere Perversion des Aufrichtigkeitsideals rührte vom Problem der Verifizierung her. Indem man sich selbst Aufrichtigkeit attestiert, ist noch nichts gewonnen. Erst wenn das Verhalten des Senders vom Empfänger als aufrichtig empfunden wird, kommt die Idealvorstellung von Kommunikation an ihr Ziel.
Allerdings kann auch die Bestätigung seitens des Adressaten dem Zweifel unterliegen: Ist die Bestätigung der Aufrichtigkeit tatsächlich aufrichtig gemeint? Das Spiel droht in einer eskalierenden Selbstbespiegelung der Kommunizierenden zu enden. In manchen empfindsamen Zirkeln der Romantik wurde dies zum Exzess getrieben. Worte galten als schwache, unzureichende Zeichen für Gefühle. Der Kommunikation traute man nur, wenn sie über das Verbale hinausschoss. So öffnete man denn sein Innerstes, brach in Tränen aus und lag sich schluchzend in den Armen – und rapportierte solche Gefühlsausbrüche akribisch in Briefen, die umgehend wieder mit tränengetränkten Episteln quittiert wurden.
Anonymität und Sachzwänge
Das attraktive Bild des moralisch handelnden Menschen, der die Geschicke der Gesellschaft in freiem Austausch mit seinesgleichen bestimmt, entkräftete sich nach erstaunlich kurzer Zeit. Beim Übergang zum 19. Jahrhundert kamen gesellschaftliche Umwälzungen hinzu, die dem Bürger als souveränem Subjekt der Geschichte den Boden entzogen.
Durch funktionale Ausdifferenzierung begann die moderne Gesellschaft sich als ein System von Systemen zu konstituieren: Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Politik bildeten Bereiche mit eigenen Logiken und Sachzwängen. Die Menschen standen nicht mehr «der Welt» oder «der Gesellschaft» direkt gegenüber, sondern fanden sich zunehmend in einer komplex strukturierten Wirklichkeit vor, die sie durch eigenes Handeln nur begrenzt gestalten konnten.
Die Anonymisierung der Systemwelt wischte gewissermassen das Problem der Aufrichtigkeit im Handeln beiseite; sie erledigte es durch die Selbstverständlichkeit eines Handelns ohne Autorschaft. Seither erweist sich die «organisierte Verantwortungslosigkeit» als Kennzeichen moderner Gesellschaften überhaupt, allerdings in einem nicht moralischen Sinn. Die Einzelnen erfüllen definierte Aufgaben im Rahmen von Funktionssystemen. Sie halten sich an Regeln, befolgen Verfahrensvorschriften und schlüpfen in Rollen. Ihr Handeln ist von der Person abgespalten.
Archimedischer Punkt Aufrichtigkeit
An diese vielfach beschriebene Wende des Verhältnisses von Person und Gesellschaft gelangt – nicht überraschend – auch Englers Nachzeichnung der aufklärerischen Vorstellung vom souveränen Subjekt. Er versucht nun allerdings weiter zu gehen. Als sittlicher Wert ist Aufrichtigkeit auch unter modernen Bedingungen nicht verzichtbar. Bloss ist sie jetzt in die Nischen des Persönlichen verwiesen und nach innen gerichtet. Aufrichtigkeit gegen sich selbst wird zum archimedischen Punkt der Moral. Wer sie pflegt, nähert sich dem neuen Ideal der Authentizität.
Von diesem Ideal sind die Wertvorstellungen und Erwartungen moderner Individuen in starkem Mass geprägt. So produktiv und entlastend die unpersönlichen Funktionszuweisungen auch sind, denen sich die Menschen in der modernen Gesellschaft unterziehen: Da entsteht ein für die Moderne bezeichnender Wertekonflikt. Der Wunsch nach Authentizität verträgt sich schlecht mit dem Prinzip der Abspaltung funktionalen Verhaltens von der Person. Engler deutet die Konfliktlinien am Schluss seiner Studie an und lässt seine Skepsis durchblicken, ob diese Divergenz unter Bedingungen, unter denen die Mehrzahl der Menschen heute lebt und arbeitet, überhaupt auszugleichen sei.
Nach vier Jahren Trump
Zu diesem skeptischen Blick auf die Gegenwart gelangte der historische Tour d’horizon des Gesellschaftsanalytikers Wolfgang Engler im Jahr 2009. In den USA hatte Barack Obama eben die Präsidentschaft übernommen. Ein Polit-Phänomen wie Trump war wohl für niemanden vorstellbar. Gewiss ist heute zu konstatieren, dass viele der in den Wechsel von Bush zu Obama gesetzten Hoffnungen enttäuscht wurden. Trotzdem bleibt noch immer der Eindruck, dass der erste schwarze US-Präsident als Persönlichkeit geradezu als Garant dafür gestanden hat, dass die von Engler bilanzierte Divergenz zwischen funktionalem Verhalten und persönlicher Aufrichtigkeit keine unüberbrückbare Kluft sein muss.
Die vier Trump-Jahre, die wir bald hinter uns haben werden, sind demgegenüber ein Schock, der lange nachwirken dürfte. Sie haben eine neue Qualität wahrheitsfreier Politik etabliert. Trump hat nicht einfach, wie das viele Politiker – zum Teil in Zwangslagen – tun, aus taktischen Gründen ab und zu gelogen und getäuscht. Er hat auch nicht im Interesse einer Ideologie die Wirklichkeit da und dort zurechtgebogen.
Trump ist sehr viel weiter gegangen, indem er die Welt der prüfbaren Tatsachen systematisch hinter sich gelassen hat. Als gelernter TV-Entertainer hat er seiner Gefolgschaft geliefert, was sie gerne hören wollte. Tweet für Tweet hat er sie zusammengeschweisst und fanatisiert gegen ihre angeblichen Feinde: die Demokraten, den Deep State, die Medien, fallweise auch gegen die Richter und letztens sogar gegen Fox News.
Die Ungeheuerlichkeit der politischen Gestalt Donald Trump liegt darin, dass er die für die Moderne lebensnotwendige Rückbindung an den Wert der persönlichen Aufrichtigkeit demonstrativ entsorgt hat. Das unterscheidet ihn von anderen üblen Amtsträgern, die «nur» korrupt oder verlogen oder unfähig oder sonst was sind. Sie alle zollen dem Prinzip Wahrheit insoweit Tribut, als sie ihre Verfehlungen zu verstecken suchen. Nicht so Trump. Er akzeptiert ganz einfach nicht, dass es in seinem Land von ihm unabhängige Institutionen und von ihm zu befolgende Regeln gibt. Er will auch nichts davon wissen, dass eine Wirklichkeit mit harten, nicht beliebig zu drehenden oder wegzuschiebenden Fakten existiert.
Indem er jeglichen Widerstand von Regeln und Tatsachen einfach beiseite wischt, macht Trump ganz beiläufig auch das Undenkbare möglich. Etwa, dass die Wahl einfach ins Leere laufen und er an der Macht bleiben könnte. Er hält einstweilen daran fest, um seine wütenden Anhänger bei Bedarf mobilisieren zu können: «Stand back and stand by!»
Das erwähnte Buch: Wolfgang Engler, Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus, Aufbau Verlag 2009, 214 S.