Am Sonntag, dem 13. Dezember 1981, rief General Wojciech Jaruzelski in Polen das Kriegsrecht aus und brachte so das normale Leben zu einem abrupten Halt. Im ganzen Land gingen Armeeeinheiten und Panzerverbände in Stellung und der von der Solidarność-Bewegung des Arbeiterführers Lech Walesa ins Leben gerufene „Polnische Frühling“ war plötzlich Geschichte.
In den folgenden Stunden, Tagen und Wochen wurde die gesamte Führung der Opposition mit Tausenden ihrer Mitglieder verfolgt, aufgespürt und verhaftet.
Schon zwei Tage nach seiner Machtübernahme erklärte sich der neue starke Mann Polens einverstanden, eine hochrangige, vom Komitee-Mitglied Rudi Jäckli geleitete IKRK-Delegation zu empfangen. Dem Treffen folgte eine ebenso prompte wie überraschende Ankündigung Jaruzelskis, wonach das IKRK ab sofort berechtigt sei in Polen eine Delegation zu eröffnen. Im Januar 1982 folgte dann die Bestätigung, dass alle „aus Sicherheitsgründen internierten“ Polen („internowany“) unter den üblichen, strikten IKRK-Bedingungen von unseren Delegierten besucht werden konnten. Um in so kurzer Zeit eine derart positive Abmachung zu erreichen war entweder ein ganz besonders gewiefter IKRK-Unterhändler am Werk, oder aber der wortkarge General hatte seine ganz eigenen Gründe für dieses unerwartet rasche Entgegenkommen; wahrscheinlich traf beides zu.
Wenig später traf ich als frisch ernannter IKRK-Delegationschef in Warschau ein, betreut mit der Aufgabe, dieses Abkommen auch möglichst effektiv umzusetzen. Das nationale Rote Kreuz war entgegenkommend und hilfreich, war es doch seinerseits ein getreues Spiegelbild der polnischen Gesellschaft: Die Präsidentin Colonel Janina Krull war eine frühere Ministerin der Regierung und, wie mehrere ihrer führenden Mitarbeiter(innen), auch Mitglied der kommunistischen Partei. Andere Rotkreuz-Kader hingegen wie auch die überwältigende Mehrzahl aller Angestellten und Volontäre sympathisierten mehr oder weniger offen mit der Solidarność-Bewegung.
Im Jahr zuvor waren verschiedene Gebiete Polens von grossen Überschwemmungen heimgesucht worden, und deshalb waren noch immer mehrere Helferinnen und Helfer der Liga der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften im Land. Deren Leiter Borje Wallberg, ein schwedischer General im Ruhestand, musste sich nun der neuen Situation des Kriegsrechts anpassen, denn es wurde beschlossen, die beiden internationalen Rotkreuz-Delegationen unter der Leitung des IKRK zusammenzulegen. Dies war eine bisher selten praktizierte, doch unter den gegebenen Umständen logische Form der Zusammenarbeit, die trotz anfänglicher Zweifel seitens der Liga-Oberen schliesslich bestens funktionierte. Zusammen bezogen wir Quartier im riesigen, aber praktisch leeren Betonklotz des Forum-Hotels, in einem der unteren von 33 Stockwerken, mit direkter Aussicht auf den benachbarten monumentalen Kulturpalast, einem typischen Juwel stalinistischer Architektur.
Während sich unsere Liga-Kollegen weiterhin um die diversen Folgen der Naturgewalten kümmerten, fing das IKRK-Team an, die Besuche der Internierten und Sicherheitsgefangenen zu organisieren. Allerdings kamen uns die vom Innenministerium versprochenen Auskünfte über Anzahl, Identität und Aufenthaltsorte der Inhaftierten nur sehr zögerlich und unvollständig zu, so dass wir schliesslich gezwungen waren unser eigenes Informationsnetz aufzubauen. Mit Hilfe der bereits besuchten Gefangenen, ihrer Familien und einiger gut informierter Priester schafften wir es innert weniger Wochen, eine komplette Liste von über 6000 Häftlingen und Internierten zu erstellen. Sie wurden in über fünfzig übers ganze Land verstreuten Orten festgehalten, von leeren Hotels an der Ostsee oder abgewirtschafteten Pensionen in der Provinz bis zu Hochsicherheits-Gefängnissen in mehreren Städten.
Jeden Samstag trafen wir uns während gut zwei Stunden mit hohen Beamten des Innenministeriums, um diese über die beobachteten Probleme zu informieren, Verbesserungen der Haftbedingungen zu verlangen und sie in etwa über unser weiteres Besuchsprogramm zu informieren. Zu Beginn jedes Treffens legte ich die von uns neu recherchierten, druckfrischen Listen der Häftlinge und Gefangenenlager auf den Tisch. Zuerst wurde die Korrektheit unserer Informationen von den Funktionären vehement in Frage gestellt, aber nach zwei oder drei Sitzungen nickten sie lediglich noch zustimmend, einige von ihnen mit eher sauren Mienen, während andere ein leicht amüsiertes, wenn nicht gar respektvolles Lächeln hinkriegten – sogar im Innenministerium gab es offenbar nicht nur eine gewisse Sympathie für unsere Arbeit, sondern vielleicht sogar für die Opfer des Kriegsrechts selber.
Jede Woche fuhren wir so um die tausend Kilometer im Land herum und besuchten jedes Mal Hunderte von Gefangenen, inklusive einer Anzahl von Frauen, die im äussersten Nordosten interniert waren. Einige führende Solidarność-Mitglieder wie Adam Michnik und Jacek Kuron waren im übelbeleumdeten Bialoleka-Gefängnis in Warschau in Haft, während Bronislaw Geremek etwas mehr Glück hatte, war er doch in einem früheren Strandhotel interniert (Jahre später konnten wir uns in Genf unbeschwert auf unsere damalige Begegnung zutrinken, denn der ehemalige internowany war unterdessen Polens Aussenminister).
Der oberste Solidarność-Führer, Lech Walesa, wurde anfänglich in einer feudalen Villa in der Nähe von Warschau unter Hausarrest gehalten, bevor man ihn dann in den abgelegensten Südosten des Landes, nicht weit von der tschechoslowakischen und ukrainischen Grenze, abschob.
Dort wurde er in einem inmitten eines von Bären und Wölfen bewohnten Urwaldes errichteten, kitschig-luxuriös ausgestatteten Jagdhaus festgehalten, ein Geschenk des grossen Jägers Josip Broz Tito an seinen lieben Jagd- und Partei-Genossen Edward Gierek, Jaruzelskis Vorgänger. Der pompöse Jagdpalast war irgendwie nicht von dieser Welt, und um dorthin zu gelangen mussten wir zwei Stunden lang in einem riesigen, lärmigen russischen Militärhelikopter über weites Land und dunkle Wälder fliegen. Walesa sprach Polnisch und Russisch, und da unsere entsprechenden Sprachkenntnisse für eine einigermassen intelligente Unterhaltung nicht ausreichten, hatten wir für unser „Gespräch ohne Zeugen“ eine schweizerische IKRK-Übersetzerin dabei.
Die Aufgabe wurde uns aber vom Solidarność-Führer leicht gemacht, war er doch in ziemlich guter Form und Stimmung. Angesichts seiner erheblichen Gewichtszunahme musste er offensichtlich keinen Hunger leiden. Auch hatte er bereits Familienbesuche empfangen können, inklusive den seiner Gattin Danuta, die schon damals Mutter von sechs Kindern war und bereits in Erwartung des siebten (ein achtes folgte Jahre später). Trotzdem war diese tapfere Frau anfänglich ebenfalls für mehrere Wochen inhaftiert worden, und dies am entgegengesetzten Ende Polens. Nach unserem Gespräch lud mich Walesa zu einem Tischtennisspiel ein, und als ehemaliger Internats-Ping-Pong-Experte nahm ich mir fest vor den Match höflicherweise nicht zu gewinnen. Nun, ich hatte auch nicht die geringste Chance zum Sieg, hatte doch mein Gegner wochenlang mit seinen Wächtern trainiert – jedenfalls fügte er mir jetzt eine drastische Niederlage zu. Über zwanzig Jahre später hatte ich in Genf Gelegenheit, mit ihm bei einem Glas Champagner darüber zu lachen, denn inzwischen war er bereits Friedensnobelpreisträger und ehemaliger Staatspräsident Polens.
Die Frage, ob Wojciech Jaruzelski ein polnischer Held oder Vaterlandsverräter war, bleibt unter vielen Polen auch heute noch heftig umstritten. Der General behauptete zwar, das Land vor einer unmittelbar bevorstehenden russischen Invasion bewahrt zu haben. Doch wenn auch gewisse sowjetische Hardliner mit solchen Ideen geliebäugelt haben mochten, gab es keinerlei konkrete Hinweise, dass Leonid Breschnew damit einverstanden war oder gar einen Angriff vorbereiten liess. Auch war das harte Durchgreifen der polnischen Armeeführung gegen die Solidarność-Bewegung beileibe keine Lappalie, und doch kam die postwendende Erlaubnis, dass sich das IKRK der Probleme der internowany umgehend annehmen konnte, ebenfalls eher unerwartet.
Tatsache ist, dass Jaruzelski ein ebenso turbulentes Leben wie eine kontroverse Karriere hatte. Im Jahre 1939 wurde er von den Sowjets als Jugendlicher mit seiner ganzen Familie nach Sibirien verbannt, von wo er dann, kaum 17-jährig, zur Zwangsarbeit in die kasachischen Kohlenminen abkommandiert wurde. Aus dieser Zeit stammte offenbar auch sein Augenleiden, welches später der Grund für seine typische dunkle Brille war. In den Vierziger und Fünfziger Jahren machte er einen ungewöhnlich schnellen und steilen Aufstieg durch die Ränge des Militärs und der Partei.
Als Verteidigungsminister im Jahre 1968 war er mitverantwortlich für den Einmarsch polnischer Truppen in der Tschechoslowakei, quasi als Wegbereitung der kurz darauffolgenden sowjetischen Invasion. Ironischerweise wurde er schlussendlich als Präsident Polens durch eben jenen Mann ersetzt, welchen er weniger als zehn Jahre zuvor verhaften und internieren liess, nämlich seine Nemesis Lech Walesa. Im Mai 2014 war Letzterer zusammen mit anderen ehemaligen Solidarność-Kameraden bei der Beerdigung des umstrittenen, über 90-Jahre alt gewordenen Generals zugegen und erklärte bei dieser Gelegenheit, dass es Gott überlassen sei über den Verstorbenen zu urteilen.
Als ich vom IKRK im Sommer 1982 in den Nahen Osten zurückberufen wurde, konnte ich Polen mit der Gewissheit verlassen, dass die überwältigende Mehrheit der Gefangenen und Internierten bereits wieder in Freiheit war. Abgesehen von der interessanten beruflichen Erfahrung, die ich erleben durfte, befanden sich in meinem Gepäck auch zwei imposante, goldglänzende Verdienstmedaillen des Polnischen Roten Kreuzes. Getreu nach Protokoll offerierte ich diese Auszeichnungen dem IKRK-Hauptquartier zur Archivierung, aber der damalige Präsident Alexandre Hay ermunterte mich freundlich doch meine eigene Kollektion anzufangen, und das tat ich dann auch.