Boris Johnson hat hoch gepokert und jetzt hoch gewonnen. Obwohl er schon als früherer Journalist als ätzender Kritiker der EU mit Sinn für einäugige Schlagzeilen Karriere gemacht hatte, war er ursprünglich nicht für den Austritt Grossbritanniens aus der Brüsseler Union eingetreten, als der damalige Premier Cameron 2016 ein Referendum über diese Frage anberaumte. Doch bald danach folgte er seinem hochentwickelten Riecher zur persönlichen Profilierung und setzte sich als Wortführer an die Spitze der Pro-Brexit-Kampagne.
Taktisch überlegen
Weil es Theresa May, seiner Vorgängerin als Regierungschefin, nicht gelang, für ihren Brexit-Vertrag mit der EU im Parlament eine Mehrheit zu finden und sie sich obendrein bei einer vorgezogenen Unterhauswahl bös verrechnet hatte, konnte sich Johnson im Juni dieses Jahres einigermassen mühelos zum neuen Tory- und Regierungschef katapultieren.
Sein pausenlos eingehämmerter Slogan «Get Brexit done» hat sich als durchschlagendes Erfolgsrezept erwiesen. Damit sind vor allem zwei zentrale taktische Ziele erreicht worden: Erstens hat Johnson mit dem ungestümen Versprechen, den Ausstieg aus der EU unter allen Umständen durchzuziehen, dem gefährlichen Konkurrenten Nigel Farage und dessen Brexit-Partei vollständig den Wind aus den Segeln genommen. Und zweitens hat er gleichzeitig den vom endlosen Brexit-Gerangel zermürbten Publikum ein scheinbar definitives Ende dieser alptraumhaften Tunnelfahrt angezeigt.
Corbyn und Swinson als Wahlhelfer
Aber Boris Johnson hatte noch zwei weitere effiziente Wahlhelfer. Sie heissen Jeremy Corbyn und Jo Swinson. Der alles andere als charismatische Labour-Führer hat sich in diesem Wahlkampf völlig verrannt und nun laut BBC für seine Partei das schlechteste Resultat bei Unterhauswahlen seit 1935 eingefahren. Der zum politischen Sektierertum neigende Altmarxist Corbyn konnte sich nicht einmal zu einer eindeutigen Haltung in der alles dominierenden Brexit-Frage durchringen. Und wer seine windungsreichen Antworten im BBC-Interview auf den Vorwurf antisemitischer Strömungen in seiner Partei mitverfolgt hat, konnte schwerlich den Eindruck haben, dass mit der Persönlichkeit des Labour-Chefs eine überzeugende Alternative zum durchtriebenen Pokerspieler Johnson zur Wahl stehe.
Corbyns Tage als britischer Oppositionsführer sind nach diesem Fiasko mit Sicherheit gezählt. Vielleicht werden sich einige besonnene Köpfe in der Partei daran erinnern, dass Labour mit einer ideologisch weniger verbiesterten und kommunikativ begabteren Figur wie Tony Blair vor nicht allzu ferner Zeit drei Mal hintereinander die Unterhauswahlen gewonnen hatte.
Eine schwere Enttäuschung müssen indessen auch die in der politischen Mitte angesiedelten Liberaldemokraten (Lib Dems) einstecken. Sie hatten gehofft, neue Wählerschichten zu gewinnen, weil sie von Anfang an für ein neues Referendum über die verkorkste Brexit-Frage geworben hatten. Doch die Lib-Dems-Führung machte im Wahlkampf schwere taktische Fehler. Sie gaukelte dem Publikum vor, das sich das Brexit-Dilemma dadurch auflösen liesse, dass eine von ihr mitgeführte Regierung den früheren Antrag zum Austritt aus der EU einfach widerrufen könnte – und zwar ohne Rücksicht auf das Brexit-Referendum vor drei Jahren. Die junge Parteichefin Jo Swinson ist für diese politische Naivität hart bestraft worden: Sie verlor ihren bisherigen Unterhaus-Sitz in Schottland. Auch die Lib Dems müssen sich nun nach einem neuen Parteiführer umsehen.
Keine grüne Welle
Anders als etwa in der Schweiz, in Deutschland oder Österreich ist bei dieser britischen Parlamentswahl von einer grünen Welle kaum eine Spur zu entdecken. Die junge Grüne Partei hat zwar laut den bisherigen Ergebnissen ihren dürftigen Wähleranteil von ein auf zwei Prozent vergrössern können, doch sie wird nur mit einem einzigen Sitz im Unterhaus vertreten sein.
Boris Johnson hat im Wahlkampf dem Publikum vorgeschwärmt, mit einem Sieg seiner konservativen Partei sei der Brexit «ofenfertig» gesichert, doch er unterschlug dabei, dass nur das von ihm ausgehandelte formelle Austrittsdatum vom 31. Januar einigermassen solide festgeklopft ist. Danach aber folgen schwierige Verhandlungen über das künftige Verhältnis des Königreichs zur EU, die gemäss Fahrplan bis Ende 2020 abgeschlossen sein sollten. Gelingt das nicht, will Johnson einen No-Deal-Brexit durchboxen, was nach Ansicht namhafter Experten die Briten mit grossen wirtschaftlichen Problemen belasten würde.
Ein Weg nach «Kleinbritannien»?
Schwer kalkulierbar wird nach Johnsons Poker-Triumph auch der politische Zusammenhalt Grossbritanniens. In Schottland, wo eine deutliche Mehrheit der Wähler schon 2016 gegen den Brexit gestimmt hatte, hat die Scottish National Party (SNP) bei der jetzigen Unterhauswahl kräftig zugelegt und ihre Sitzzahl um 13 auf 48 verstärkt. Die Parteichefin Nicola Sturgeon hat bereits erklärt, sie betrachte diesen Erfolg als Mandat für ein neues Referendum über einen möglichen Austritt Schottlands aus dem britischen Königreich. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass als Folge von Johnsons Brexit-Jubel aus Grossbritannien eines nicht allzu fernen Tages ein Kleinbritannien wird. Auch trickreiche Pokerspieler und gewissenlose Gaukler stehen am Ende ihrer Karriere nicht immer als überragende Sieger da.