Trauer prägt die acht Räume der Fondation Beyeler, welche die Kolumbianerin Doris Salcedo (*1958) mit sparsamen Installationen bespielt. Es sind Räume des Erinnerns an Abwesende, Verlorene, Tote. Die Künstlerin ruft sie auf beeindruckende Weise in die Gegenwart zurück.
Das Saaltext-Büchlein, das für die Besucherinnen und Besucher bereitliegt, wartet mit Hintergrundinformationen auf. Ihre Themen sind Bürgerkriege, Guerillakämpfer, Massaker, Heimatlosigkeit, das Verschwinden von Menschen. Sie berichten vom Klima eines Landes, dessen Einwohner einen Alltag voller Schmerz, Leid und Trauer erleben.
Doris Salcedo suchte auf ausgedehnten Reisen durch ganz Kolumbien Kontakte zu betroffenen Menschen, die um den Verlust von Verwandten und Freundinnen trauern, die vertrieben wurden und in Armut leben. Sie führte Gespräche und sammelte Zeugnisse. Dieses Kolumbien, wo Doris Salcedo aufwuchs, wo sie Kunstgeschichte und Malerei studierte, wohin sie nach Studien in New York wieder zurückkehrte und wo sie heute arbeitet, bildet den Ausgangspunkt der Werke, welche die Künstlerin in der Fondation Beyeler präsentiert.
Es ist in der Schweiz die erste grosse Übersicht über das Schaffen der Künstlerin. Salcedo ist weltweit anerkannt und präsent in Ausstellungen, gelangte aber (noch) nicht zu breiter Popularität, da sie nicht die Sehnsucht nach fragloser Schönheit bedient wie manche Impressionisten oder Vertreter der klassischen Moderne. In ihrer Basler Schau setzt Doris Salcedo klare Akzente. In jedem Saal zeigt sie in konzentrierten Setzungen ein Werk oder eine zusammenhängende Werkgruppe. Nichts wirkt überladen. Die Räume atmen in wechselnden Rhythmen. Ihre gleissende Helle schafft einerseits eine objektivierende Distanz zu den Werken, doch zugleich zwingt sie die Besucherinnen zu genauem Hinsehen und zum Befragen jedes Details. Diese Genauigkeit des Beobachtens erst macht es möglich, den Intentionen Doris Salcedos auf die Spur zu kommen und zu erahnen, worum es ihr in ihrer künstlerischen Arbeit geht.
Im Unterschied zu vielen politisch motivierten Künstlerinnen und Künstlern verzichtet Salcedo nicht nur auf das oft pathetische Benennen konkreter Missstände oder verübter Gewalttaten, sondern auch auf direkte Schuldzuweisungen. Sie will sich damit aber nicht in die bequeme Sicherheit einer «Neutralität» zurückzuziehen. Vielmehr schafft sie es, mit der zurückhaltenden Stringenz und mit ihrer bis in jedes Detail perfekt eingesetzten künstlerischen Sprache unser Nachdenken in Gang zu setzen. Das erfordert Energie und die Bereitschaft, auch nach Verborgenem zu suchen. Persönliche Betroffenheit kann die Folge sein, aber auch die Einsicht, dass, was weit entfernt geschieht, auch mit unserer (Selbst-)Sicherheit zu tun haben kann.
Nadeln im Seidenstoff
Hoch ausgebildetes ästhetisches Bewusstsein und sensibles Raumgefühl prägen diese künstlerische Sprache. Dazu kommt, dass Doris Salcedo wohl extremste Gefährdungen menschlicher Existenz vor Augen führt, dass sie das aber mit Zärtlichkeit und Poesie verbindet. Ein Beispiel dafür ist der Raum mit den Werken «Disremembered» (2020/21): An den Wänden eines Raumes hängen vier textile Objekte. Sie lassen sich als Kleidungsstücke, als Blusen lesen, die aus federleichtem transparentem Seidengewebe gefertigt sind. Doch die Schönheit trügt, denn die feinen dunklen Striche sind – das entdeckt man erst bei nahem Hinzutreten – Tausende von in den Stoff eingefügten Nähnadeln. Schmerz und zarte Empfindung treffen sich unvermittelt in einem Werk.
Ähnlich die Installation «Plegaria Muda» (2008–2010). Während eine luftig-leichte Atmosphäre, gleichsam ein Hauch, den «Disremembered»-Saal prägt, herrscht hier bedrohliche Enge. Der Raum ist so voller alter und dunkler übereinander gestapelter Tische, dass man sich seinen Weg zum nächsten Raum suchen muss. Die Enge ist beängstigend. Die Dimension der Tische erinnert an Särge. Verstörend oder gar absurd wirken die vielen nach oben ins Leere gerichteten Tischbeine.
Auch da verbindet Doris Salcedo die Härte mit befreiender oder auch hoffnungsvoller Poesie: Zwischen die Tischplatten ist jeweils eine dicke Erdschicht gefügt. Die Grashalme, die aus dieser feuchten Erde spriessen, durchdringen die Ritzen im Holz. Dunkle Härte verbindet sich mit frischem Grün.
Oder: Bedeckt in einem weiteren Raum ein blassrotes blutgetränktes und Falten werfendes Tuch den Boden («A Flor de Piel», 2012)? Es sind Abertausende von Rosenblättern, die Doris Salcedo konservieren und in immenser Handarbeit mit feinem chirurgischem Faden zusammennähen liess.
Kleider und Namen der Abwesenden
«Atrabiliarios» nennt Doris Salcedo eine weitere, 1992 bis 2004 entstandene Werkgruppe. In die weisse Gipswand sind Nischen eingelassen. Pergamentartige halbtransparente Folien bedecken, was sie enthalten. Es sind Schuhe von Verschwundenen. Die Künstlerin hat sie im ganzen Land gesammelt.
Den nächsten Raum verstellt – in irritierenden Kombinationen und Verbindungen – altes abgenutztes Mobiliar wie Bettgestelle, Stühle, Schränke. Vieles ist mit Beton ausgegossen, und in den Beton sichtbar eingelassen sind Textilien. Die getragenen Kleider beschwören, ähnlich wie die Schuhe zuvor, jene verschwundenen oder verstorbenen Menschen, die sie getragen haben. Die nutzlos herumstehenden Möbel signalisieren in ähnlicher Weise die Abwesenheit und die Heimatlosigkeit von Menschen, die aus ihrem Lebensraum vertrieben wurden.
Der letzte grosse Saal der Retrospektive von Doris Salcedo nimmt die Installation «Palimpsest» auf, die bereits seit Oktober vergangenen Jahres hier zu sehen ist, und über die an dieser Stelle am 14. Oktober 2022 berichtet wurde. Auch sie ist der Erinnerung an Verstorbene gewidmet: Doris Salcedo machte Hunderte von Namen von Geflüchteten ausfindig, für die die Fahrt über das Mittelmeer tödlich endete.
In klassisch-schönen Versalbuchstaben sind diese Namen auf dem porösen, an Sand gemahnenden hellbeigen Boden des Saals zu lesen. Teils sind sie eingraviert und je nach Lichteinfall besser oder schlechter zu lesen. Zum Teil bestehen die Buchstaben aus Wasser, das mit Düsen von unten in Buchstabenform durch die porösen Platten gepresst wird und bald wieder in den Platten versickert – als sollten wir als Betrachterinnen und Betrachter Zeugen des Ertrinkens dieser Menschen werden. Im grossen Saal herrscht eine bedrückende Atmosphäre stiller Trauer. Doris Salcedos künstlerische Sprache mutet einerseits auch hier kühl-analysierend an. Gleichzeitig aber lebt sie von tief humaner Empfindung und Einfühlung in die Gefährdungen menschlichen Daseins.
Fondation Beyler: Doris Salcedo, bis 17. September
Katalog: CHF 62.50