Die kolumbianische Künstlerin Doris Salcedo (*1958) erinnert in einer eindrücklichen Installation im grössten Raum der Fondation Beyeler an Hunderte im Mittelmeer ertrunkener Flüchtlinge. Der Titel: «Palimpsest».
Pergament war im Mittelalter rar und teuer. Brauchte man einen Text nicht mehr, schabte man die Buchstaben ab und beschrieb die Tierhaut erneut. Geschickte Paläografen können solche Palimpseste entziffern und Verborgenes und Vergessenes zu Tage fördern.
Doris Salcedo gibt ihrer Installation den Titel «Palimpsest». Auch sie überscheibt Buchstaben. Auch da warten Geheimnisse darauf, entschleiert zu werden. Auch hier geht es um ein Erinnern an Vergangenes. Die Buchstaben, die Doris Salcedo auf die im Saal fugenlos ausgelegten Platten schreibt, verschwinden und werden wieder sichtbar. Es sind Namen von Hunderten Emigranten, die ihre Fahrt übers Mittelmehr nicht überlebten.
Doris Salcedo verwendet zwei Arten von Buchstaben. Allesamt sind sie gepflegt gestaltete Versalien. Die einen sind in die Kunststeinplatten eingraviert und je nach Lichteinfall leicht oder schwieriger zu lesen. Die anderen bestehen aus Wasser, das von Düsen von unten in Buchstaben-Form durch die porösen Platten hochgepumpt wird und wieder in den Platten versickert.
«Palimpsest» wirkt einfach, klar und wegen der verwendeten Schrift geradezu klassisch. Wer verfolgt, wie sich die Wasserbuchstaben verändern, wie sie die eingravierten Buchstaben überlagern, verschleiern und wieder versickern, stellt sich Fragen – zuerst wohl solche technischer Natur. Ganz simpel: Wie ist das gemacht? Woher kommt das Wasser und wohin versickert es?
Bald wird einem bewusst, dass diese Fragen Oberflächlichem gelten. Sie zielen nur auf die – allerdings höchst komplizierte und unseren Augen verborgene – Machart. Diese Komplexität wird aber zur Metapher für das nun nicht nur künstlerische, sondern politische und damit auch ethische Anliegen, das Salcedo umtreibt. Sie lässt die Tragödie, die sich seit Jahren im Mittelmeer abspielt, ohne dass wir sie wirklich wahrnehmen, zum Bild werden: Da verschwinden oder «versickern» vor unseren Augen Menschen auf ihrer Reise, die sie als Reise der Hoffnung angetreten haben.
Für die einzelnen Namen recherchierte die Künstlerin während Jahren bei europäischen Hilfsorganisationen und fand Dokumente zu rund dreihundert Namen realer Menschen. Das ist ein kleiner Teil der insgesamt 15’600 Flüchtlinge, die zwischen 2013 und 2017 (in dieser Zeitspanne entstand die Arbeit) im Mittelmeer ertrunken sind. 171 Namen lesen wir jetzt in Salcedos Installation. Die eingravierten Buchstaben benennen Menschen aus Fluchtbewegungen vor 2010. Die sich zu Buchstaben verbindenden Wassertropfen benennen Flüchtlinge, die zwischen 2011 und 2015 umkamen.
«Palimpsest» steht für die sich in stetem Kreislauf wiederholenden Ereignisse, denen wir hilflos gegenüberstehen. Die Installation Doris Salcedos, die erstmals 2017 in Madrid und später in London zu sehen war und nun in Riehen aufgebaut wurde, ist von beispielhafter politischer Dimension – ein berührendes Werk des Erinnerns und der stillen Trauer. Das Werk ist für die Fondation Beyeler so wichtig, dass die Installation beinahe ein ganzes Jahr im Saal verbleiben wird. Im Herbst 2023 wird «Palimpsest» Teil der grossen Ausstellung sein, welche die Fondation mit der kolumbianischen Künstlerin plant.
Fondation Beyeler Riehen. Bis 17. September 2023. Vom 30. Oktober bis zum 8. Januar ist die bisher grösste Präsentation der Sammlung Beyeler zu sehen. Diese Präsentation wird durch den Einbezug mehrerer hyperrealistischer Skulpturen des US-Amerikaners Duane Hanson erweitert.