Nicht nur verwies ihn der Nachname auf die urtümlichen Kuhweiden des Haslitals, im Raphael klang Rap und Raffa und Altes Testament mit. Und war der mittlere Name nicht etwas aufdringlich Programm für Gutes Dichten? Schliesslich lautet, so erklärte mir Urweider später, die lateinische Urform von Bendicht Benedictus, was ‚Gutgesagtes‘ und ‚Wohlgemeintes‘ heisst. Aber, lachte er, diesen zweiten Vornamen hätten die Veranstalter des Programms einfach dem Pass entnommen, wo er wohl direkt aus der Taufurkunde kommend gelandet war, ohne dass ihn jemand je in den Mund genommen hätte.
Rapper und Poet
Dabei kommt Urweider aus Guttannen, er spricht (zumindest mit einem Walliser von ännet dr Grimsla) einen Dialekt, der tatsächlich zwischen Oberland und Goms angesiedelt ist. Sein Vater kannte das Alte Testament, denn er war da oben Pfarrer gewesen. Urweider Junior ist Rapper und Poet. Denn wegen seines Namens allein wäre er wohl kaum nach Pune und Pondi eingeladen worden, dafür sind Lyriker eine viel zu gefährdete Spezies Mensch. Und der Mitveranstalter Pro Helvetia trägt auch nicht eben den popigsten Markennamen, den man sich vorstellen kann.
Urweider war nicht der einzige farbige Paradiesvogel, der an diesem Abend auf der Bühne erschien (auch diese ideal geeignet für eine Off-Off-Veranstaltung, war sie doch eher ein Hinterhof mit ein paar halbrunden Stufenreihen zum Sitzen, umgeben von schütteren Büschen, irgendwo im urbanen Nirgendwo eines indischen Millionendorfs).
Mit ihm kamen ein Dichter aus Schottland aufs Podium, eine Lyrikerin aus Wales, ein Poet aus Manipur, eine Dichterin aus Mumbai, die in Äthiopien geboren war und Bengali sprach, und eine aus dem Languedoc. Und die Meisten teilten mit Bendicht poetische Namen - Robert Ngangdong und Roselyne Sibille und Zoe Skoulding, Sampurna Chattarje und Meena Kandasamy. Bill Herbert, gälischer Dichter und Professor für ‚Creative Writing‘ an der Universität von Newcastle, wirkte da schon fast exotisch, mit seinem Mainstream-Namen und dem umgehängten Cashmere-Pullover.
36 Ausdrücke für "das Meer"
Aber Bodenhaftung hatten sie alle, nicht nur Urweider, wenn er eine Rap-Nummer gab. Meena Kandasamy stampfte auf, wie sie, mit wildem Haar und feurigen Augen, gleich drei ihrer ureigenen Randexistenzen den paar Zuschauern vor die Füsse warf - „Frau, Tamilin, Dalit“. Und das wohlgeformte Englisch von Bill Herberts Texten verwandelte sich, wenn er seinen Mund auftat, in einen barocken Tonraum von rauchigen Urlauten, nicht unähnlich dem Berndeutsch Urweiders, dem handfesten Punjabi von Arjun Bali oder dem Tamil-Englisch, das Meena für sich einforderte, „meinem Englisch, mit 36 Ausdrücken für das Meer, und Femininum-Endungen für Flussnamen, Namen gefallener Göttinnen, von den Göttern ausgestossen, weil sie denen zu heiss waren“.
Die acht Poeten waren aus Pondicherry gekommen, wo sie auf Einladung der in London angesiedelten Organisation ‚Literature across Frontiers‘ zehn Tage lang einander ihre Texte übersetzt hatten. Sie hatten dabei festgestellt, dass sie sie einfach einander vorlesen mussten, um sie verständlich zu machen. Herbert hatte ein berndeutsches Gedicht von Urweider übersetzt, aber in der gegenseitigen Rezitation von Original und Wiedergabe in gälischem und bernischem O-Ton klangen sie beide so ähnlich mit ihren knarrigen Konsonanten und den hallenden Vokalen, dass sie sich wie Dialektvarianten anhörten, und die Akustik war plötzlich unendlich viel wichtiger und verständlicher als die langweilige Insistenz auf Wortbedeutungen.
Ballade, Pop, Rap, Agitprop, Soundmix, Elegie, Voice-Over
Auch andere eingestanzte Konventionen purzelten an diesem Abend durcheinander. Die acht Lyriker kamen aus vier Ländern – Indien, Schweiz, Grossbritannien, Frankreich. Aber niemand nahm an diesem Abend von dieser Halbierung Notiz. Im Gegenteil, genauso wie sich die Genres der abendlichen Darbietung multiplizierten – Ballade, Pop, Rap, Agitprop, Erzählung, Soundmix, Elegie, Dialog, Voice-Over – genauso blühten im abendlichen Smog von Pune neue Nationalitäten auf. Irgendwer erwähnte ein Dutzend Kulturen und Sprachen, und ich zählte nach. Tatsächlich: die gälische, walisische, frankoprovenzalische, bernische, und ein paar Exempel aus dem weiten indischen Archipel - Rajasthan, Manipur, Punjab, Tamil Nadu, Bengalen.
Dabei hatte ich die regionalen englischen Varianten, für die Meena eigene Echtheitssiegel postuliert hatte, noch gar nicht mitgerechnet. Aber was mich faszinierte, war nicht nur der Reichtum des Lokalen, sondern auch die Flexibilität des Globalen, die dem Lokalen Brücken baute. Denn wenn es nicht die gemeinsame Plattform des Englischen gegeben hätte – ein Grundkonsens über alle lautlichen und semantischen Varianten hinaus – es wäre nicht möglich gewesen, all diese Tanzschritte auszuführen und zu putzigen kleinen Pas-de-Deux zu verzwirbeln.
Diktatur des Oxbridge-English
Die Dichter mit dem indischen Pass konnten schön über den Reichtum ihrer Sprachen schwärmen, aber sie taten es Gott sei Dank in Englisch. Und jene mit dem EU-Pass liessen sich erfreut von der Diktatur des Oxbridge-English beurlauben. Und Urweider freute sich, dass Berndeutsch in den Olymp einer eigenen Sprache gehoben wurde (wo ich es immer angesiedelt habe, zumindest seitdem ich vor vierzig Jahren den Versuch aufgab, ein Buch zu entziffern, das den Titel „Am Hof vo Sänt Dscheeims“ trug).
Der Abendverkehr wurde derweil immer lauter in diesem ‚Oxford des Ostens‘, das mit seinem Smog allerdings mehr einem frühindustriellen Manchester gleicht. Es begann kalt zu werden, und die Sieben Aufrechten auf den Steinstufen rückten näher aneinander. Aber was sich zu Beginn des Abends wie eine mögliche Ausrede für verfrühtes Verschwinden angeboten hatte – mehr Leute auf als vor der Bühne, weniger Kleider als nötig, der Verkehrslärm – wurde immer mehr zum Stimulans, das dem Abend seine Würze gab. Es schärfte die Sinne für diese Lust, Menschen zuzuhören, die mit der Verschiedenheit ihres Sprechens eine Einheit des Verstehens schufen.