Wissenschaftsgeschichte ist immer auch Sprachgeschichte. Wichtige Schritte in der Erkenntnisentwicklung lassen sich parallel an der Begriffsentwicklung verfolgen. Und nicht selten eröffnen sich überraschende und unerwartet aktuelle Querverbindungen. So zum Beispiel bei den Begriffen des Planeten und des Virus. Das Wort Planet stammt ab vom griechischen «plane»: wandern, herumirren. Planeten sind himmlische Wanderer, früher auch «Wandelsterne» genannt, im Gegensatz zu den festen Punkten am Firmament, den Fixsternen.
Aber der Bedeutungshorizont umfasst mehr. Das Wort meint auch Vagabunden, die ungebeten eine Stadt betreten. Erratische Invasoren quasi. Die Hippokratischen Schriften zum Beispiel bezeichnen Fieber als «Planeten», als Krankheit, die von Person zu Person vagabundiert. Und das ist ja eine treffliche Charakterisierung. Bei den Römern bedeutete Planet ebenfalls eine Krankheit, deren Ansteckung und Ausbreitung man nicht verhindern und deren Ausgang man nicht voraussehen kann.
Planeten und Epidemien vagabundieren umher, die einen am äusseren Himmel, die anderen im inneren «Himmel», im Körper, oder zwischen den Körpern. Sie beunruhigen uns, sie fordern uns heraus, weil wir nicht immer klug werden aus ihren Wegen.
Traditionell hing das Studium des Himmels eng zusammen mit dem des Körpers. Der Körper als Mikrokosmos war ein Abbild, quasi eine Karte des Universums als Makrokosmos. Deshalb suchte man das himmlische Vagabundieren mit dem körperlichen Vagabundieren in Zusammenhang zu bringen. Astromedizin nannte sich das. Sie ordnete zum Beispiel Organe bestimmten Planeten zu. Der Venus entsprachen Gleichgewichtsorgane und Nieren, dem Mars männliche Geschlechtsorgane, Muskeln, Arterien.
Treten die Organe aus ihrem normalen «Orbit», werden wir krank. Das Korrespondenzdenken gilt heute als nicht mehr wissenschaftlich. Das Planetenvagabundieren suchen wir mit Astronomie, das Krankheitsvagabundieren mit Epidemiologie zu «tracken». Im ersten Fall haben wir beachtlichen Erfolg, im zweiten – na ja.
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In diesen Kontext gehört natürlich das Wort «Virus». Viren sind in gewissem Sinn auch winzige Vagabunden, die in unseren Körper eindringen. Allerdings sprechen alte lateinische Texte vom Virus als von einer Flüssigkeit, zum Beispiel von Samen, Schleim oder Eiter. Mit dem Flüssigen konnotiert ist die Infektion, ihrer Wortwurzel nach ein «Eintauchen» in die Unreinheit, in das «Miasma» der Krankheit.
Im Flüssigen steckt ebenfalls die Bedeutung des Einfliessens, der Influenz. «Influenza» lautet der Fachterminus für Grippe. Er geht zurück auf die Vorstellung der mittelalterlichen Medizin, dass Planetenkonstellationen unser Leben beeinflussen. Sie spielt in der Geschichte der öffentlichen Gesundheit eine wichtige Rolle.
Einer der ersten Epidemiologen im 17. Jahrhundert war ein Astrologe: der Brite John Gadbury. Er ging von einem damals plausiblen Gedanken aus: Wenn Planetenkonstellationen Krankheiten verursachen können, dann können sie auch Heilungen bewirken. Dazu muss man den Lauf der Planeten als Modell verwenden. Gadbury sammelte akribisch Daten über vorgängige Epidemien in London – Inzidenzen, Sterblichkeitsraten, Infektionshäufigkeiten – und er suchte sie mit bestimmten Planetenkonstellationen zu korrelieren: eine erste primitive Datenwissenschaft mit astrologischem Modell sozusagen.
So fand Gadbury zum Beispiel heraus, dass die Zahl der Pesttoten im Juli 1593 rasant wuchs bei einer Konstellation, in welcher Mars eine bedeutsame Position einnahm. Die Zahl sank im September, als Venus in eine bedeutende Position rückte. Gadbury schloss daraus, dass die Bewegung des «wütenden» Planeten Mars die Ursache der Pest sei, während der «besänftigende» Einfluss der Venus zum Abklingen der Pest führe.
Man könnte sagen, Gadbury nutzte Astrologie in Ermangelung von Statistik. Aber brüsten wir uns mit der modernen Statistik nicht übermässig! Denn gerade in der Corona-Pandemie sucht einen gelegentlich die Frage heim, ob auf die Epidemiologen mit all ihren ausgeklügelten Kalkulationen nicht etwa in gleichem Masse Verlass sei wie auf die früheren Astrologen.
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Die moderne Bedeutung des Virus als Pathogen setzte sich erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, nach der Entdeckung der Mikroben, durch. Der britische Schriftsteller Hilaire Belloc verfasste 1896 ein Gedicht – «The Microbe» –, das mit den folgenden Versen beginnt: «
The microbe is so very small
You cannot make him out at all,
But many sanguine people hope
To see him through a microscope.
Belloc beschreibt einige Merkmale der Mikrobe in poetischer karikierender Sprache und endet mit den Zeilen:
All these have never yet be seen –
But scientists, who ought to know,
Assure us that they must be so…
Oh! Let us never, never doubt
What nobody is sure about.
«Zweifeln wir nie und nimmer an dem, worüber niemand gewiss ist.» Umgekehrt: Nehmen wir das Ungewisse als gewiss an – dieser wunderbar ironische Satz kommt einem wie die Vorwegnahme unserer gegenwärtigen Situation vor.
Für die meisten Menschen damals musste es einen gewaltigen Glaubenssprung bedeutet haben, sich vom Einfluss – von den «Konspirationen» – der Götter und Planeten oder der giftigen Säfte und Dämpfe abzuwenden und sich nun den unberechenbaren Launen von winzigen, unsichtbaren «Keimträgern» ausgesetzt zu sehen.
Obwohl uns heute die Elektronenmikroskopie die oft exotische geometrische Molekülstruktur des Virus in allen Details sichtbar macht, hat sich die «Saft»-Bedeutung auch in der rezenten Immunologie gehalten. Denn eine der bekannten Abwehrreaktionen des Körpers ist die «humorale», über Körpersäfte vermittelte. Billionen von Lymphozyten patrouillieren im Blut und produzieren, wenn es darauf ankommt, Antikörper gegen virale Eindringlinge. So schnell werden wir alte Begriffsbedeutungen nicht los.
Das gilt besonders auch für die Astrologie. Natürlich machen sich die Planetendeuter jetzt fleissig Gedanken über Viren und Konstellationen am Himmel. Die populäre amerikanische Astrologin Susann Miller ist zuversichtlich: «Ein grosses Ereignis im Jahr 2021 ist der Konflikt zwischen Saturn und Uranus darüber, was wir in unserem Leben beibehalten sollten und was sich ändern muss. Die Umwelt ist ein sehr grosses Anliegen, über das man nachdenken muss, und das ist gut, denn Uranus kann innovativ sein und Wege aufzeigen, den Planeten zu retten.»
Na bitte, wer sagt denn, auf Astrologie sei kein Verlass.