Unmittelbar nach der Eroberung von Raqqa haben Sprecher der
siegreichen Landtruppen der SDF (Syrian Democratic Forces) erklärt, Raqqa und seine ganze Provinz sollten Teil eines künftigen dezentralisierten Syriens werden. Sie fügten hinzu, sie gedächten die Grenzen der Provinz Raqqa gegen alle Kräfte zu verteidigen, die sie – die SDF – dort angreifen würden. Die Regierung der Stadt und ihrer Provinz wollen die SDF, wie ihr Sprecher, Jallal Tello, versprach, einem bereits ernannten lokalen „Zivilrat“ und dessen vorgesehenen inneren Verteidigungskräften übergeben.
Öcalans revidierte Ideologie
Gleichzeit wurde recht klar gemacht, wer hinter den SDF („Syrische
Demokratische Kräfte“) steht, indem ein riesiges Bild von Abdullah
Öcalan auf dem – zerstörten – zentralen Platz von Raqqa erschien.
Bisher war dieser Platz vor allem berühmt dafür, dass der IS dort
öffentliche Hinrichtungen durchführte.
Abdullah Öcalan ist der nach wie vor von den Kämpfern der PKK
hochverehrte Gründer und langjährige Anführer der kurdisch-türkischen
Widerstandskämpfer oder Rebellen (je nach Standpunkt). Er sitzt seit
1999 gefangen auf der Marmara-Insel Imrali und er hat im Gefängnis
seine früher „maoistische“ Ideologe stark verändert.
Heute fordert er autonome und kooperative Kurdengebiete in allen vier von Kurden bewohnten Staaten (Türkei, Irak, Iran, Syrien), die über die nationalen Grenzen hinweg zusammenarbeiten könnten. Seine neue Doktrin wurde 2015 von einem Kongress der PKK angenommen*.
Das Erscheinen des Bildes Öcalans im neu eroberten Raqqa bestätigt weitgehend den türkischen Verdacht, nach dem der führende Teil der SDF, der aus den syrisch-kurdischen YPG besteht, sehr stark von der PKK abhänge, ja, wie Ankara sagt, „in Wirklichkeit“ eine Filiale der PKK sei.
Die SDF haben bekanntlich entscheidende Unterstützung durch die
Staaten der amerikanischen Koalition gegen den IS erhalten, aus der
Luft wie auch – durch Sondertruppen – zu Lande. Die USA selbst spielten dabei die wichtigste Rolle.
Putin kennt die Risiken
Doch der Plan eines „autonomen“ und „kooperativen“ syrischen Nordens stammt nicht aus den USA, sondern aus dem Gefängnis von Imrali. Bekanntlich will Amerika unter Trump nichts mehr vom „Staatenaufbau“ (Nation building) wissen. Mit Russland steht es anders. Moskau muss sich mit Staatenaufbau befassen, wenn es je den Bürgerkrieg in Syrien beenden und seine Luftwaffe aus Syrien zurückziehen will. Denn eine einfache Fortsetzung des bisherigen Asad-Regimes – ohne mehr oder weniger weitgehenden Umbau – ist kein aussichtsreicher Weg in die Zukunft und droht, den Bürgerkrieg oder den Untergrund-Aufstand fortzusetzen. Was ein verfehltes Endspiel für die russische Intervention in Syrien bedeutete.
Moskau, genauer Putin, weiss das und sucht daher einen Ausweg, der
eine Stabilisation in Syrien ermöglichte. Er scheint dabei, mindestens
als eine der Möglichkeiten, eine „Dezentralisierung“ Syriens ins Auge
zu fassen. Von einer solchen ist seit geraumer Zeit in Russland die
Rede. Sie hat sich konkretisiert in dem „gemeinsamen“ Vorschlag zu
einem künftigen Kongress aller ethnischen syrischen Minoritäten, von
dem der Sprecher Putins, Dimitri Peskov, gegenüber Journalisten erklärte, er werde zur Zeit im Kreml „aktiv diskutiert“. Der Sprecher fügte hinzu, es sei noch zu früh, um über Standort und Zeitpunkt dieses
Vorhabens zu sprechen.
Wer steht hinter dem Dezentralisierungsplan?
Wer genau mit dem Wort „gemeinsam“ gemeint ist, sagte der Sprecher
nicht. Doch man kann vermuten, dass die syrischen Kurden zu dieser
„Gemeinsamkeit“ gehören, und man kann auch annehmen, dass Damaskus wahrscheinlich nicht dazu gehört und bestenfalls nur unter Druck zur Beteiligung zu gewinnen wäre. Damaskus gehört ja auch nicht zu den Mächten, die in der kasachischen Hauptstadt Astana tagen und dort die syrische De-Eskalation festgelegt haben. Die offizielle Position von Damaskus ist nach wie vor, dass das Asad-Regime ganz Syrien wieder uneingeschränkt unter seine Gewalt bringen soll.
Über Raqqa hinaus auch nach Deir az-Zor?
Über Raqqa und seine Provinz hinaus, Euphrat abwärts, stehen die SDF (mit ihren kurdischen Hauptkontingenten) ebenfalls im Vormarsch und zwar auf dem linken Ufer des Stroms, während die syrischen Truppen Asads auf dem rechten Ufer vordringen. Die Regierungsarmee kämpft dort noch um die Restquartiere der Provinzhauptstadt Deir az-Zor, die sich in der Hand des IS befinden. Sie aber ist aber auch schon weiter Strom abwärts vorgerückt und hat die Stadt Mayadin eingenommen, in der sich vorübergehend überlebende Chefs des IS zusammengefunden hatten.
Die syrische Armee meldet, sie habe dort beachtliche Beute an Waffen
gemacht. Ihr Vorstoss wird durch russische Kriegsflugzeuge
unterstützt. Und es gibt Meldungen darüber, dass diese mehrmals Boote und Flosse bombardiert haben, auf denen Zivilisten versuchten, den Euphrat zu überqueren. Auf der anderen, linken, Seite des Stroms
rücken die SDF vor, ihrerseits mit Hilfe der Luftwaffe der
amerikanischen Koalition.
Ob die SDF versuchen werden, auch jene Gebiete, die sie nun ihrerseits besetzen, ebenfalls als autonome und kooperative Sondergebiete festzuschreiben, ist noch offen. Doch besteht kein Grund, dies zu unterlassen, solange es in der Nachbarprovinz Raqqa geplant ist. Beide Provinzen, Raqqa und Deir az-Zor, sind arabisch, nicht kurdisch sprechende Provinzen. Doch gibt es auf der linken Seite des Euphrats eine bedeutende assyrisch christliche Minderheit.
Russlands zukünftige Rolle in Syrien
Es ist noch zu früh, um zu beurteilen, ob derartige Pläne für Syrien
wirklich aufgestellt werden und ob sie dann auch verwirklicht werden
können. Doch es ist von Bedeutung, dass sie offenbar in Moskau erwogen werden, weil dies ein deutliches Zeichen dafür ist, dass heute die Verantwortung für die Zukunft Syriens, soweit es überhaupt eine solche Zukunft geben wird, bei Russland liegt, während die USA sich von ihr losgesagt haben. Mit dieser Verantwortung gehen natürlich auch
Führungsansprüche einher, auf welche die USA unter Trump ebenfalls zu verzichten scheinen.
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* Über Öcalan findet man einen ausführlichen Artikel in Wikipedia,
dort gibt es auch die Verweise auf die verschiedenen theoretischen
Schriften, die Öcalan im Gefängnis verfasst hat. Sie sind auf dem
Internet zugänglich.