Seit dem „Bärendrama“ in Berns Bärenpark, als ein Jungtier von seinem Vater im Spiel getötet wurde, ist einmal mehr die Debatte zwischen Tierschützern und Zootierhaltern entbrannt: über Sinn und Funktion von zoologischen Gärten und über das Verhältnis des urbanisierten Menschen zur Natur überhaupt. Die Diskussion ist zentral und vital. Sie sollte als Signal für eine zukünftige Politik der Natur ernstgenommen werden, die anstelle von Grossprojekten wie des „Ozeaneums“ in Basel vielmehr in der Stadt selbst einen Zoo sieht.
„Lebende Monumente ihres eigenen Verschwindens“
So bezeichnet der bekannte britische Schriftsteller und Kunstkritiker John Berger Zootiere in seinem grossartigen Büchlein „Why Look at Animals“. Damit meint er nicht nur das augenfällige Artensterben, sondern das weit weniger offensichtliche „Sterben“ des „Blicks zwischen Mensch und Tier“. Industrialisierung und Technisierung unserer Lebensformen entfernen uns von den Tieren.
So erscheint die Lage zumindest vordergründig. Denn es ist ja nicht zu übersehen, dass in dem Masse, in dem uns etwa die Nahrungsmittelindustrie von den „natürlichen“ Tieren entfernt, die Unterhaltungsindustrie uns eindeckt mit Bildern, Filmen, Karikaturen, Simulationen, Disneyfizierung des Lebens anderer Arten – dazu tragen auch Zoo und Zirkus bei.
Die cartesianische Hypothek
Tiere bevölkern mit uns die Erde, wir teilen mit ihnen – rauben ihnen allerdings zunehmend – die Habitate unseres Planeten. Tiere bevölkern aber auch unsere Köpfe, seit den Prähominiden. Die Faszination für andere Spezies herrscht quer durch alle Kulturen und Gesellschaften. Viele Ursprungsmythen beschreiben Mensch und Tier als in kameradschaftlichen oder gar geschwisterlichen Verhältnissen lebend. Speziell unsere Kultur bringt nun aber dem Tier eine eigentümlich ambivalente Haltung entgegen.
Wir kennen einerseits den Umgang auf der Ebene „unseresgleichen" seit alters in Mythos, Märchen, Fabel, wo Tiere ganz selbstverständlich als beseelte, mit uns innerlich verbundene, uns spiegelnde Lebewesen auftreten. Auf der anderen Seite leitete das 17. Jahrhundert quasi einen zweiten „Sündenfall" ein, in der Form einer radikalen philosophischen Skepsis, welche die seelische Solidarität aller Lebewesen aufkündigte. Der Cartesianismus leugnet die Tierseele, betrachtet das Tier als blossen organischen Körperautomaten, ohne Verstand, Empfindungsvermögen und Bewusstsein.
Unsere ambivalente Haltung zum Tier
Die Beziehung des Menschen zum Tier war immer schon ambivalent, gerade weil es uns zugleich ähnlich und unähnlich ist. Es wird ausgebeutet und angebetet. Für den Bauern der vorindustriellen agrarischen Gesellschaft war es und ist es wohl kein Widerspruch, eine emotionale Beziehung zum Schwein zu haben und es gleichzeitig als Nahrungsmittel zu halten. Für uns heutige Städter hingegen, die sich von einer solchen direkten Abhängigkeit gelöst haben, bricht die Ambivalenz zu einer Polarität auseinander, die oft krasse Züge annimmt. Das heisst, wir kennen das Tier meist unter den Extremformen des Nützlings (bzw./Schädlings) und – um hier einen Neologismus zu verwenden – des Hätschlings.
Nützlinge (bzw. Schädlinge) markieren quasi die cartesianische Einstellung, die Sicht auf das Tier als handhabbares, exploitierbares, zu wartendes, eventuell auch zu entsorgendes Gerät. Im Hätschling sehen wir dagegen den Quasi-Menschen: die Projektionsfläche unseres eigenen Lebens. Den Millionen von Schlachttieren in der Nahrungsmittelindustrie entsprechen die Millionen von Schosstieren in unseren Haushalten. Man schätzt die Anzahl Hunde allein in der Schweiz auf eine halbe Million, Katzen auf fast anderthalb Millionen. Die Humanpopulation beträgt ca. acht Millionen.
Was nachgerade schizophren anmutet, ist die Gleichzeitigkeit beider Sichten im Blick auf das Tier. Zum Beispiel im Laborversuch. So schreibt ein medizinischer Forscher über sein Versuchstier: „Ich möchte (..) ein paar Bemerkungen zur Operation am offenen Brustkorb (..) sagen: Der Hund wird im Käfig zu mir gebracht, ich nehme ihn raus, ich spiele mit ihm. Es entwickelt sich ein Vertrauensverhältnis zwischen uns, eine Beziehung zwischen zwei gleichberechtigten lebenden Individuen. Und während dann mein Laborant dem Hund ein Narkotikum in die Pfote spritzt, gebe ich mich mit ihm ab, bis er schläft. Dieser Vorgang tut mir jedesmal sehr leid, denn ich mag Hunde sehr. Sobald der Hund jedoch tief schlafend daliegt, ich also keine persönliche Beziehung mehr mit ihm habe, verliert sich auch mein Mitleid und der Hund wird Gegenstand eines wissenschaftlichen Gedankens."
Der „Blick auf niemand“
Der Laborblick entspringt nicht einfach einer „natürlichen" Neugier des Menschen. Er ist das Produkt wissenschaftlicher Tradition und Erziehung. Und heute schreibt sich in ihn immer mehr das Interesse der Pharmaindustrie ein. Er beruht auf einer ganz spezifischen Bereitschaft, Phänomene des Lebens wahrzunehmen. Vor allem aber ist der Laborblick immer auch ein Ausblendungsvorgang. Ein Forscher, der ihn auf dem Gebiet der experimentellen Biologie oder Medizin einübt, muss lernen, das Tier aus einer unbeteiligten, neutralen Position, als Präparat, wahrzunehmen. Es ist – mit den Worten des Philosophen Thomas Nagel gesprochen – nicht nur ein Blick „von nirgendwo“, sondern ein Blick „auf niemand“, auf ein Lebewesen bar jeglicher Individualität.
Und zu diesem Zweck muss der Forscher einen Teil seiner eigenen Natur unterdrücken, muss er das, was sich als mitfühlender, mitleidender "Störfaktor" melden könnte, möglichst ausblenden und verdrängen. Welche emotionalen Bindungen ihn sonst mit dem Tier verknüpfen, welche Skrupel ihn auch heimsuchen mögen; von solchen persönlichen menschlichen Regungen haben jedenfalls Operationsschragen und Labortisch im Namen objektiver Erkenntnis gereinigt zu werden, weil sie nichts „zur Sache" beitragen.
Auf Fauna in der Nahzone aufmerksam
Wir müssen deshalb den Blick auf das Tier als ein eminent kulturelles und wissenspolitisches Anliegen entdecken, als die Emanzipation des Blicks „auf jemand“, ohne das Tier nun übertrieben zu personalisieren. Das Problem liegt nicht darin, dass es in urbanen und suburbanen Umwelten keine Tiere mehr gibt, sondern darin, dass sie nicht gesehen werden. Genau hier läge ein Ansatzpunkt zu einer ganz anderen Rehabilitierung des Zoos, nun nicht als einer eingehegten Natur-Enklave in der Stadt, sondern im Paradigmenwechsel der Stadt als eines „Zoos“. Es leben – so sagen uns die Stadtökologen – unglaublich viele Arten in urbanen und suburbanen Umwelten. Für einen solchen Blickwechsel bräuchte es deshalb nur eine individuelle banale Inititalzündung des Aufmerksamwerdens auf die Fauna der Nahzone.
Hier ein Beispiel aus meiner persönlichen Erfahrung. Seit einiger Zeit fällt mir in der unmittelbaren Umgebung unseres Hauses ein neuer Vogelruf auf: geschwätzig und bisweilen aufsässig. Eine Mönchsgrasmücke, sagt man mir, ein grauer, rotkappiger Vogel von eher unscheinbarer Gestalt. Es ist nicht so, dass er in mir nun ein besonderes ornithologisches Interesse oder einen vogelschützerischen Impuls geweckt hätte.
Dennoch hat sich der Ruf dieses Lärmers inzwischen aus dem Hintergrundrauschen meiner Umgebung herausgelöst und sich mir als ein spezifisches Signal eingeprägt, für bestimmte Tageszeiten oder als Kontrast zu anderen Vogelrufen. Ich nehme mir oft sogar Zeit, genauer hinzuhören. Kurz, was mir buchstäblich zugestossen ist, hat die Heftigkeit einer elementaren Erfahrung, und zwar gerade nicht des blossen Alarmiertseins durch einen Bienenschwarm im Dach oder durch Ratten im Keller. Ich meine eine Wahrnehmungsart: die Ent-Trivialisierung des Tiers. Ich nehme den Vogel wahr, als Mitbewohner meines Habitats. Als Bekannten.
Das lange Weilen lernen
Dazu braucht es keinen Zoo. Dieses „Zustossenkönnen“ birgt vielmehr ein, wenn nicht das Kernproblem unserer Lebensform: Im Umgang mit dem Tier verrät sich der Umgang mit der Zeit. In jedem Tier begegnen wir einer anderen, spezifischen Zeitordnung. Deshalb erfordert Sensibilisierung für die Fauna langes Weilen, geduldige Sinnlichkeit: etwas, das man lernen muss. Der Alltag des spastischen Blickwechsels und der vagierenden Aufmerksamkeit erscheint nicht als das geeignete Habitat für den Blick auf das Tier.
Wenn man Zoos gern als restaurative Reservate für diesen Blick beansprucht, dann spricht sich darin implizite der Anspruch auf „quality time“ aus, die man sich von der Normalzeit abspart. Aquarium, Terrarium, Volière: das sind Zeit-Enklaven. Der Paradigmenwechsel würde sonach darauf beruhen, dass wir vermehrt versuchen, unsere Normalzeit als „quality time“ aufzufassen. Mir kommt hier eine schöne Anekdote in den Sinn. Rilke arbeitete 1905 bei Rodin als Privatsekretär. Als der Poet eine Schreibblockade hatte, riet ihm der Plastiker, in den Zoo zu gehen. „Wie lange?“ fragte Rilke. „Schau, bist du es siehst,“ antwortete Rodin, „ein paar Monate mögen genügen.“ Rilke befolgte den Rat und schuf eines der schönsten Gedichte überhaupt: „Der Panther“.
Selbstverständlich geht es nicht darum, zu Poeten wie Rilke zu werden, wenn wir nur die nötige Zeit für das Tier aufbringen. Hingegen liesse sich „Schau, bis du es siehst“ als ein Memento des Tiers lesen: Nimm dir Zeit, dann siehst du mich in meiner Eigenart und Einzigartigkeit! Tiere schützen heisst Zeit schützen – meine eigene, und damit mich selbst.