Hans Himmelheber (1908–2003) ging als einer der ersten Ethnologen der Kunst Schwarzafrikas wirklich auf den Grund. Ihm ist in einer Ausstellung zu begegnen, die zu grundsätzlichem Nachdenken über weltweite kulturelle Beziehungen anregt.
«Negerkunst und Negerkünstler» nannte 1960 der Ethnologe Hans Himmelheber seine Publikation: Ein heute unvorstellbarer Titel, mit dem sich jeder Autor einem gravierenden Rassismus-Vorwurf aussetzen würde. Doch Himmelheber war – trotz der Verwendung des «Unwortes», das damals noch problem- und bedenkenlos angewendet wurde – kein Rassist. Er war, im Gegenteil, ein Pionier im achtsamen Umgang mit der Kunst Schwarzafrikas. Er nahm die Künstler als Menschen ernst und nannte sie in seinen Publikationen wenn immer möglich mit ihren Namen, er besuchte sie und führte mit ihnen ausführliche Gespräche.
Darin unterschied er sich von den gut eine Generation älteren Künstlern der beginnenden europäischen Moderne, welche ob der afrikanischen Skulpturen ins Schwärmen gerieten, sich von ihnen beeinflussen liessen und sich in ihrem Formenrepertoire frei bedienten – Picasso oder Vlaminck zum Beispiel.
Auch manche deutsche Expressionisten sind zu nennen: Ernst Ludwig Kirchner besass einen Hocker aus dem Grasland Kameruns und zeichnete ihn mehrfach, Ernst Heckel war begeistert von den Schätzen im ethnologischen Museum Dresden, die er in seinen Bildern ausführlich zitierte. Ähnlich Emil Nolde: Er war wohl nicht in Afrika, bereiste aber im Zuge einer Expedition 1913/14 Neuguinea. Nicht nur die Südseelandschaft, auch die Kunst der Südsee hinterliess in seinem Werk deutliche Spuren. Die Europäer interessierten sich kaum für Künstler, deren Werke sie ausführlich zitierten. Von all diesen Wegbereitern der Moderne ist nicht bekannt, dass sie sich über das ästhetische Erscheinungsbild hinaus mit dem Gesamtphänomen «exotischer» Kunst befasst hätten.
Die Künstler als Menschen
Anders eben der aus Karlsruhe stammende Hans Himmelheber. Er war promovierter Ethnologe und Mediziner. Ab 1929 handelte er mit Kunst Schwarzafrikas – vor allem mit Holzskulpturen. Mit dem Erlös finanzierte er seine dreizehn ausgedehnten Reisen nach West- und Zentralafrika, die er zwischen 1933 und 1976 unternahm. Anders als manche Kollegen führte er diese Expeditionen in eigener Regie, ohne staatlichen Auftrag und ohne Einbindung in offizielle Forschungsprogramme durch. Ganz auf der Höhe seiner Zeit war er auch, was die technische Dokumentation der für ihn neuen Kulturen betraf: Er setzt, um sich ein Gesamtbild zu verschaffen, nicht nur seine Leica-Kleinbild-Kamera ein, sondern ebenso Filmkameras im S-8-Format sowie Tonbandaufnahmegeräte.
Vor allem aber rückte er eine neue und offene Herangehensweise an die Lebensäusserungen der fremden Menschen in den Vordergrund seiner Arbeit. Als einer der ersten Ethnologen stellte er wichtige Fragen zur Kunst Afrikas und interessierte sich für die Künstler als Menschen und ihre soziale Stellung, für die materiellen Bedingungen, unter denen sie arbeiteten, und für die Funktion ihrer Werke in ihrem gesellschaftlichen Umfeld.
Das erwähnte Buch mit dem heute geächteten Titel ist mehr als 60 Jahre alt und heute zweifellos in manchen Teilen überholt, doch es war lange Zeit im deutschsprachigen Raum das Standardwerk zu diesem Thema. Es ist reich und attraktiv illustriert und allgemein verständlich geschrieben, wendet sich also nicht an ein spezifisches wissenschaftliches Fachpublikum, sondern an eine interessierte Allgemeinheit.
Nähe und Distanz
Hans Himmelheber war mit dem Museum Rietberg in Zürich eng verbunden. Sein Stiefsohn, der Ethnologe Eberhard Fischer, war von 1972 bis 1998 dessen Direktor. Das Museum hütet Hans’ immensen Nachlass an Fotos, Aufzeichnungen, Vortragsnotizen, ethnologischen Objekten und technischen Hilfsmitteln wie Kameras.
Nun widmet das Museum ihm eine Ausstellung, die Teil eines breit angelegten, vom Nationalfonds unterstützten Forschungsprojektes der Universität Zürich ist. Ihr Titel «Look Closer» fordert die Besucherinnen und Besucher auf, wie Himmelheber genau hinzusehen. Doch auch wenn es paradox anmutet: Wer aus der Nähe hinsieht, sieht genauer und gewinnt dabei kritische Distanz. Bei aller Würdigung der Pionierrolle des Ethnologen, dessen Feldarbeit zentrale Phasen der jüngerer Geschichte mit ihren Brüchen durchlief – Kolonialismus, Befreiung und Unabhängigkeit und schliesslich Post-Kolonialismus –, ist auch hier ein kritisches Hinsehen gefordert, genau wie im ganzen politisch hart diskutierten Themenkomplex der Beziehungen Europas zu den Kulturen des Südens.
Blick des Europäers
Auch Himmelhebers Lebenswerk zehrt letztlich, wie kulturhistorische und kunsthistorische Arbeit generell, auch oder gar vor allem von der Kreativität anderer Menschen. Konkret beruht das Werk Himmelhebers schwergewichtig auf dem Blick des Europäers auf die Kultur des Andern, des Fremden. Dieser Blick bleibt auf Schritt und Tritt spürbar. Ein Beispiel verdeutlicht, was damit gemeint ist. In Himmelhebers Arbeit kommt die Kreativität von Frauen kaum vor. Der Titel der erwähnten Publikation nennt, auch das heute politisch höchst «unkorrekt», nur das Maskulinum, den Künstler. Der Autor hatte vor allem die Skulptur und damit die Holzbildhauer im Blick, nicht aber die ephemerere Textil- oder Töpferarbeit der Frauen. Frauen betätigten sich in Himmelhebers Forschungsgebieten nicht mit Bildhauerei oder Schnitzerei. Es scheint für ihn keine Künstlerinnen gegeben zu haben – oder höchstens hier oder dort eine Töpferin, auf deren Arbeit er kaum einging.
Hans Himmelheber sorgte jedoch selber für einen Perspektivenwechsel – um den Blick des Afrikaners auf den Europäer: 1972 bat er vier afrikanische Schnitzer um Porträtmasken seiner selbst. Die Ausstellung im Museum Rietberg zeigt sie und dazu eine Fotografie, auf der die vier Masken mit dem «Original», mit Himmelheber selbst, zu sehen sind. Die Maske von Dje Abou Coulibaly erweist sich als realistischstes Abbild des Ethnologen.
Auch die Ethnologin Daniela Müller, Mitautorin der Ausstellung, liess sich 2022 von Houandan Zrankeon Godé, einem Künstler der Côte d’Ivoire, am Stiel eines zeremoniellen Löffels porträtieren.
Was in diesem Zusammenhang interessant ist, auch wenn es in der Ausstellung nicht thematisiert wird: Julius Lips (1895–1950) befasste sich bereits 1937 und wohl als erster Ethnologe mit dem Blick von afrikanischen Künstlern auf die Europäer, konkret auf die Kolonisatoren. Lips’ Frau publizierte das Material nach seinem Tod in einem Buch, das unter dem Titel «Der Weisse im Spiegel der Farbigen» mancherlei spannende Überraschungen bereithält. Die da abgebildeten Figuren sind oft politisch anklagend, oft aber auch karikierend humorvoll.
Der Blick auf die Künstler
Ein wichtiges Thema der Ausstellung «Look Closer» sind die Begegnungen Himmelhebers mit Künstlerpersönlichkeiten seines Forschungsgebietes. Ein Paradebeispiel dafür ist der Liberianer Sra (ca. 1885–1955), der in seiner Region als Ausnahmeerscheinung galt und den Himmelheber 1952 besuchte. In der Ausstellung begegnet man seinem Porträt sowie einigen seiner qualitätsvollen Arbeiten. Im Buch von 1960 lässt Himmelheber ihn ausführlich zu Wort kommen. Er schildert ihn als einflussreichen und in der ganzen Region bekannten Künstler von ausgeprägtem Selbst- und Sendungsbewusstsein. Ein in der Ausstellung zu lesendes Zitat Sras: «Ich heisse Sra. Sra bedeutet Gott. Diesen Namen haben mir die Menschen gegeben, weil ich wie Gott mit meinen Händen so schöne Dinge zu schaffen vermag.» Sra war sich sicher, dass Gott selber ihm die künstlerische Fertigkeit gelehrt hatte. Er war in seiner Arbeit nicht von Aufträgen abhängig, konnte sich frei entfalten, hatte viele Schüler und erreichte mit seiner Arbeit Ansehen und Wohlstand.
Ein weiterer Künstler, der in der Ausstellung vorgestellt wird, ist Kouakoudili (ca. 1890–?), dem Himmelheber auf seiner ersten Reise an die Côte d’Ivoire 1933 begegnete. Er ist wohl der erste Afrikaner, der als mit Name bekannter Künstler fotografiert wurde. Die Ergebnisse dieser Expedition verarbeitete Himmelheber zu seiner Dissertation. Gemäss den Saaltexten zur Ausstellung ist sie die erste Publikation überhaupt, die namentlich genannten afrikanischen Künstlern gewidmet ist. Rund 20 kommen zu Wort, befragt nach ihrer Arbeit, ihrem sozialen Umfeld, ihrer Ausbildung, ihrer künstlerischen Freiheit.
Auch Sabou bi Boti (Côte d’Ivoire, ca. 1920–2021) verdient Erwähnung als ein unverwechselbarer Künstler, der sich vom Zeitgeschehen auf lokaler und internationaler Ebene beeinflussen liess und 1975 eigens für Himmelheber und Eberhard Fischer eine bunt bemalte Maske mit einer Akrobaten-Szene herstellte.
Die Ausstellung «Look Closer» geht auf verschiedenen Forschungswegen dem Thema nach. Einen davon beschreiten heute tätige Künstlerinnen und Künstler aus dem afrikanischen Kontinent oder aus seiner Diaspora – zum Beispiel die 1977 geborene kongolesisch-französische Künstlerin Michèle Magema.
Sie durchforstete Himmelhebers Skizzen- und Fotomaterial aus dem damaligen Belgisch-Kongo (1938/39), zeichnete die Bilder nach und näherte sich so ihrem eigenen Ursprungsland an. Die wissen Linien, mit denen sie die Zeichnungen in den Räumen des Museums Rietberg verortet, zeigen die Routen von Himmelhebers Reisen im Kongo. Auch andere Künstlerinnen und Künstler schufen eigens auf die Ausstellung hin neue Werke, zum Beispiel David Shongo (*1994), der Himmelhebers Notizen und Bilder aktuellen Aufnahmen von Verkehrswegen im Kongo gegenüberstellt, oder Obou Ghais (Côte d’Ivoire, *1992), der eine Maskengestalt der Dan-Region neu interpretiert.
Das Buch von Hans Himmelheber von 1960 ist in der Ausstellung präsent. Das inkriminierte Wort im Titel ist verpixelt. In der ganzen Ausstellung im informativen und hilfreichen Begleitheft kommt das Wort nicht vor.
Museum Rietberg, Zürich. Bis 17. September