In einer meiner letzten Kolumnen erwähnte ich den Film PadMan als Versuch Bollywoods, sozial relevante Themen zur Sprache zu bringen. Der Schauspieler Akshay Khanna spielt dort einen Mann, der eine hygienische und billige Monatsbinde entwickelt, nachdem er gesehen hat, mit was für Lumpen sich arme Frauen abfinden müssen.
PadMan war nicht der erste Film, in dem Kumar ein Problem aufnimmt, das Gesundheit und Lebensqualität vieler Inder belastet. Zwei Jahre zuvor spielte er in einem Streifen mit dem romantischen Titel „Toilet. A Love Story“.
Im Unterschied zu Padman spielt er hier allerdings nicht den Reformer. Wie in der realen Begebenheit, die zur Filmidee führte, schlüpft die frisch verheiratete Braut in diese Rolle. Wie so oft in Indien wird die junge Frau an einen ihr unbekannten Mann verschachert. Dieser nimmt kaum von ihr Notiz und denkt sich nichts dabei, als er sie ins Gebüsch schickt, wo sie ihre Notdurft erledigen darf.
„Sauberes Indien“
Indes, die junge Frau will sich das nicht bieten lassen. Denn sie kommt aus einem Haushalt, in dem eine richtige Toilette steht. Sie weiss, was es bedeutet, den ganzen Tag warten zu müssen, bis die Dunkelheit anbricht und sie endlich ihr Geschäft erledigen kann. Sie weigert sich, bei ihrem Mann zu bleiben. Seine unbeholfenen Ausflüchte nutzen wenig – sie packt ihre Siebensachen und kehrt ins Elternhaus zurück. Der Mann muss wohl oder übel eine Toilettenhütte errichten, bevor sie einlenkt.
Die Geschichte aus Zentralindien hatte damals ein beträchtliches Medienecho gefunden, da sie kurz nach der Ankündigung einer grossangelegten Regierungskampagne für ein „Sauberes Indien“ – Swachch Bharat – kam. Premierminister Narendra Modi selber erwähnte die junge Frau in seiner regelmässigen Radio-Plauderstunde als Rollenvorbild.
Inzwischen ist Swachch Bharat zu einem Alltagsbegriff geworden, befördert von einer beispiellosen Werbekampagne. Allerdings teilen sich die Meinungen darüber, wie stark die Realität den angeblichen Erfolgszahlen hinterher hinkt.
Verbannung des Toilettengangs
Es mag durchaus stimmen, dass fünfzig Millionen Haushalte inzwischen eine Toilette gebaut haben, was in etwa dem Plansoll – 100 Millionen in fünf Jahren – entspricht. Immer wieder mache ich jedoch die Beobachtung, dass die Toiletten zwar stehen – aber nicht benutzt werden. Entweder wurden sie unsachgemäss ausgehoben und stinken. Die Verrichtung im Freien, so die immer noch vorherrschende Volksmeinung auf dem Land, ist gesünder als das Kauern über einer stinkenden Grube.
In meinem Indien-Buch von 2015 hatte ich eine Studie erwähnt, die zeigte, dass weder Gesundheit noch Armut und ländliche Herkunft die entscheidenden Kriterien sind, die diese Praxis erklären. Hinduismus und Kastenordnung sind die relevanteren Variabeln. Es ist das religiös untermauerte Vorurteil, dass alle Körperausscheidungen eine rituelle Befleckung darstellen. Die Verbannung des Toilettengangs ins Dickicht und die mangelnden hygienischen Vorsichtsmassnahmen der Hindu-Mehrheit korrelieren mit der hohen Anfälligkeit für Krankheiten des Magen/Darmtrakts. Chronische Diarrhöe, Cholera und Ruhr führen bei Müttern zu Anämie und unter den Kindern zu Untergewicht, Zwergwuchs, und kognitivem Rückstand.
Muslime, auch wenn sie ärmer sind, benutzen öfter richtige Toiletten, mit einem entsprechend besseren Gesundheitsprofil. Dies erklärt das Paradox, dass Bangladesch, obwohl ökonomisch bedeutend ärmer als Indien, im Gesundheitsprofil der Frauen und Kinder weit besser dasteht. Und es erstaunt nicht, dass Letztere auch bei den schulischen Leistungen besser abschneiden als ihre indischen Altersgenossen.
Höhere Kindersterblichkeit als in Bangladesh
Der Economist erwähnte kürzlich eine Statistik, die zeigte, dass sich der chronische Durchfall bei Kindern unter einem Jahr zwischen 1994 und 2014 um die Hälfte reduziert hat. Der frühkindliche Tod aufgrund von wasser-induzierten Krankheiten hat sich seit den frühen neunziger Jahren gar um 90 Prozent verringert.
Es gilt als sicher, dass – neben der universellen Verabreichung von Salzlösungen – der Bau von Toiletten der wichtigste Grund für diese markante Änderung des Gesundheitsprofils ist. Er erklärt das Paradox, dass Indien im Vergleich mit Bangladesch ein doppelt so hohes Pro-Kopf-Einkommen ausweist – gleichzeitig aber auch eine weit höhere Kindersterblichkeit.
Dieses Paradox lässt sich mit einem weiteren bekannten Paradox auflösen. Es erklärt, warum das Bevölkerungswachstum in Bangladesch – lange eine demografische Zeitbombe – rascher sinkt als in Indien: Weil mehr Kinder überleben. Je höher die Überlebenschancen, desto geringer der Anreiz für Ehepaare, noch mehr Kinder zu zeugen.
Hervorragende Non-Profit-Organisationen
Der Bau von Toiletten wurde von der bangalischen Regierung als Teil der Millennium Development Goals der Uno propagiert. Das Land verfügt über grosse und hervorragende Non-Profit-Organisationen. Es waren weitgehend diese, die eine praktisch flächendeckende sanitäre Versorgung durchsetzten. Allein die NPO BRAC baute über fünf Millionen Toiletten.
Baute? Vielleicht sollte es heissen: Liess bauen. Denn dank der Mobilisierung von Dorfgemeinschaften, und besonders Frauengruppen, wurde der Plan für eine Toilette allmählich ebenso selbstverständlich wie der für eine Kochstelle. In Indien wirkt die Idee einer Toilette als „Brautpreis“ immer noch wie eine Sensation – „filmreif“, wie „Toilet. A Love Story“ bewies; in Bangladesch dagegen ist es immer mehr eine Selbstverständlichkeit.
Mehr noch: Der Bau einer Toilette geht immer öfter einher mit dem Anzapfen von sauberem Trinkwasser. Zapfstellen werden oft in der Nähe der Latrinen gebaut, aus hygienischen Gründen. Sie sind aber offenbar genügend weit weg und tief, dass Bakterien in den Fäkalien den Grundwasserspiegel nicht kontaminieren.
Bangladesh wird sein ältestes Cliché los
Dass eine statistisch relevante Beziehung zwischen Volksgesundheit und schulischer Lernfähigkeit besteht, ist eine Binsenwahrheit. Es erstaunt daher nicht, dass Bangladesch trotz seiner grösseren Armut früher als Indien eine hundertprozentige Einschulung erreicht hat, namentlich bei Mädchen. Zwar bleiben gerade Mädchen immer noch relativ oft dem Unterricht fern – aber im Gegensatz zu Indien ist es nicht mehr Schwäche und chronische Diarrhöe, die sie zuhause festhalten, sondern Hilfe im Haushalt.
Auch bei der Lohnarbeit bricht Bangladesch mit einem weitverbreiteten Vorurteil, dem der Frauenfeindlichkeit des Islam. Trotz einem tieferen industriellen Entwicklungsstand weist es einen weit höheren Anteil weiblicher Beschäftigung auf als Indien. Dies zeigt sich etwa bei der Textilindustrie, die jene Indiens in bezug auf Exporte weit hinter sich lässt. Achtzig Prozent der vier Millionen Angestellten sind Frauen.
Damit ist Indiens armer Nachbar auf gutem Weg, das älteste Cliché über das eigene Land loszuwerden. Es wurde dem Land bei seiner Geburt in die Wiege gelegt, von niemand Geringerem als Henry Kissinger.
Kissinger irrte sich
Präsident Nixon und sein Aussenminister hatten 1971 auf Pakistan gesetzt und die Sechste Flotte in die Bay of Bengal detachiert. Als Bangladesch dennoch auferstand, hatte der Verlierer Kissinger schnöde erklärt, dieser demografische „basket case“ habe ohnehin wenig Überlebenschancen. Heute weist es bessere Sozialindikatoren auf als der grosse Nachbar Indien und das ehemalige Mutterland Pakistan.
Mit der Textilindustrie ist es dem Land gelungen, sich in einem übersättigten und hart umkämpften Weltmarkt zu etablieren. Die Branche ist gewiss nicht in allen Aspekten ein Vorzeigebeispiel. Die katastrophalen Brände der letzten Jahre haben gezeigt, dass viele Fabrikgebäude immer noch an die unhygienischen und gefährlichen Zustände des frühindustriellen Manchester-Kapitalismus erinnern.
Diese Missstände verwehren manchmal aber den Blick auf die mutigeren Arbeitsrechtsreformen, die Bangladesch im Vergleich zu Indien durchgesetzt hat. Auch hier wirkt ein Paradox: Gerade weil der Arbeitsschutz weniger ausgeprägt ist als etwa in Indien, gelang es Bangladesch, viel mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Indiens rigide Arbeitsgesetze haben das Gegenteil bewirkt: sie führten zu Mechanisierung, Automatisierung und – in nicht allzuweiter Ferne – zu Robotisierung.