Am Freitagabend gastierte im Festspielhaus Baden Baden Philippe Jaroussky, der momentan bekannteste Countertenor. Begleitet wurde er vom Orchester ‚I Barocchisti’ aus Lugano und der Moskauer Sopranistin Julia Lezhneva. Geboten wurde Sakralmusik der beiden Barockkomponisten Antonio Vivaldi ( ‚Nisi Dominus’) und Giovanni Battista Pergolesi (’Stabat Mater’).
Stimmlich sind die Countertenöre die Erben der Kastraten. Deren hohe Stimmen interpretierten im Barock die weiblichen Rollen, da Frauen von der Kirche ein Auftreten auf Bühnen untersagt worden war. Die Kastraten waren die Popstars des Barock. Sie waren prächtig gekleidet, stark geschminkt, sie reisten viel, verdienten üppige Honorare und führten oft ein aufwendiges, ausschweifendes Leben. Ihre hellen, hohen Stimmen, hatten starke Wirkungen. Dem Kaiser Philipp V. von Spanien vertrieb die wunderbare Stimme Farinellis (bürgerlich Carlo Broschi ), des bekanntesten Kastraten seiner Zeit, die Schwermut. Der Kaiser behielt ihn deshalb 25 Jahre lang bei sich und machte ihn zu seinem engsten Vertrauten.
„Genuss ohne Reue“
Prosaischer war die Wirkung der androgynen Stimmen auf die Frauen. Ihnen bereiteten sie erotische Schauer, die nicht immer ungenutzt blieben. Denn, anders als angenommen, waren die Kastraten ausdauernde Liebhaber, die ausserdem ‚Genuss ohne Reue’ versprachen, da keinerlei Schwangerschaft zu befürchten war.
Heute wäre ein Ersatz der Frauenstimmen nicht mehr notwendig, doch durch das erneute Aufkommen der Barockmusik haben auch die Countertenöre stark an Popularität gewonnen. Die hohe Männerstimme wird nun durch Technik gewonnen, nicht durch Operation. Die ‚contotenori’ singen mit einer durch Brustresonanz verstärkten Kopfstimme und erreichen so die Alt- oder Sopranlagen von Frauen. Sie haben allerdings weder den Klang noch den Stimmumfang einer Kastratenstimme. Für den Film ‚Farinelli’ benötigte man jeweils fünf Sänger, männliche und weibliche, um dessen Arien nachsingen zu lassen. Cecilia Bartoli und Luciano Pavarotti waren unter ihnen.
Im schwarzen Anzug und offenen Hemd
Der Star der 36- jährige Franzose Jaroussky singt zwar mit einer hellen, jungenhaften Stimme mit grosser Strahlkraft, erklimmt hohe Sopranlagen und bewältigt die virtuosesten Koloraturen, doch unterscheidet ihn vieles von seinen barocken Vorbildern. Schon in der Prachtentfaltung seiner Kostüme. So tritt Jaroussky immer in schwarzem Anzug mit schwarzem offenen Hemd auf. Der Versuch einer Moderedaktorin, ihn in einer Modeboutique zur Farbe zu bekehren, scheiterte an seiner Zurückhaltung. Sein Focus scheint ganz auf der Entwicklung seiner Stimme und seinem Repertoire zu liegen. Jaroussky: ‚Seit nun 15 Jahren versuche ich das zweigestrichene C zu singen. Aber ich denke, es ist nun an der Zeit einzusehen, dass es nicht mehr kommt.’
Er studierte Gesang in Paris, trat in Oratorien bei verschiedenen Festivals auf und gründete 2002 das ‚Ensemble Artaserse’ um in seiner Programmauswahl unabhängiger zu sein. Inzwischen hat er zahlreiche Musikpreise bekommen und Liedzyklen wie die ‚Sonnets de Louise Labé ‚ von Marc André Dalbavie, sowie die Oper ‚Caravaggio’ von Suzanne Giraud wurden für ihn komponiert. Seinen Durchbruch in Deutschland verdankt er allerdings seinem Einspringen für den erkrankten Andreas Scholl, einem in Basel lebenden und an der Schola Cantorum lehrenden deutschen Countertenor. Beide gaben kürzlich ein Konzert am Théatre des Champs-Elysées, wo sie gemeinsam Arien und Duette sangen: Jaroussky mit der hohen kristallklaren Stimme und Scholl mit seiner wärmeren und dunkleren. Es wurde ein grosser Erfolg.
Wie eine Droge
In Baden Baden nun interpretierte Philippe Jaroussky zwei verschiedene Musikstile: Den Rausch des Hochbarock und die Empfindsamkeit des Rokoko. Vivaldis Musik wirkt wie eine Droge, will dem Hörer den Boden unter den Füssen wegziehen und raubt ihm die Orientierung wie die Barockkirchen, deren Eindrucksreichtum schwindlig macht. Pergolesi hingegen ist als Reaktion darauf der Verinnerlichung der Gefühle Verpflichtet. Der Erfinder der ‚opera buffa’ hat laut Jean-Jacques Rousseau in das ‚vollkommenste und rührendste Duett geschaffen, das je der Feder irgendeines Musikers entflossen ist.’
Beide Stile werden von Philippe Jaroussky , Julia Lezhneva und den Barocchisti auf das Eindrücklichste interpretiert. Ein Konzert, das still macht und noch lange nachklingt.
Philippe Jaroussky gastiert mit ‚Sabat Mater’ am 21.Januar in Luzern
Die CD des Konzertes ist beim Label ERATO / Warner erschienen