Der Name fiel mir plötzlich wieder ein, als wir ins Tal von Bhimtal einbogen und von oben den See - -tal heisst See – erblickten. Er lag noch immer sehr weich in einer weiten Mulde, ein Anblick, den uns die schroffen Himalayatäler nicht geboten hatten. Auch andere Menschen hatten diese Schönheit offensichtlich bemerkt. Wo sich früher Reisterrassen den Flanken entlangzogen, waren diese nun dicht mit Häusern gesprenkelt.
Die Schmetterlingssammlung
Peter Smetacek! – Ja, so hiess er. Ob der damals (1986?) junge Mann mit den langen Haaren und dem Schmetterlingsnetz wohl immer noch hier wohnte? Und wie war es wohl seiner Sammlung von Faltern ergangen, mit deren Aufbau er begonnen hatte? Als ich das Haus der Smetaceks besuchte, war sie noch klein, nachdem die Kollektion seines Vaters einem Angriff von Milben zum Opfer gefallen war.
Als wir uns der Stadt näherten, bereits eingeengt von hässlichen Beton-‚Chalets’ – Nirvana hiess eins – sah ich plötzlich ein handgemaltes Schild: Rock Museum. Es war eher eine verstaubte Lagerhalle mit Fossilien, Körben, Heugabeln, Butterfässern und Ölbildern treuherziger Himalaya-Schönheiten. Aber das Fünfzig-Rupien-Ticket war dennoch ein Volltreffer: Peter Smetacek? „Jones Estate, beim See rechts hinauf“.
Poetische Namen
Eine Abzweigung mit der Tafel Peter’s Nest bestärkte uns, dass wir auf dem rechten Weg waren, auch wenn die Strasse immer enger wurde und Gras ansetzte. Ein letzter Zweifel blieb, denn am Ende der Strasse stand nur Fredy’s Place – nicht Peter’s –, daneben ein schütteres Cricketfeld und an dessen Rand ein baufälliges Langhaus, das eher an den Umkleideraum eines heruntergekommenen Dorfklubs erinnerte.
Wir klopften dennoch an, weil wir uns an den Hinweis unter dem Veranda-Eingang klammerten: Guided Tour – 100 Rupies stand da. Wenn Jemand an diesem Ort hundert Rupien verlangt, sinnierten wir, kann sie eigentlich nur durch eine Schmetterlingssammlung führen. Und der Mann, der nach unserem zögerlichen Klopfen die Veranda herunterkam und uns die Hand schüttelte, war Peter Smetacek. Das Haupthaar war beträchtlich kürzer, dafür war die Gürtelweite gewachsen. Er kaute noch an seinem Mittagessen.
Zehn Minuten später sassen wir bei schwarzem Kaffee und Bhimtal Sweets, umgeben von etwa dreissig Vitrinen mit den schönsten aufgespreizten Flügeln. Poetische Namen flogen durch die Luft – Orange Oakleaf, Painted Courtesan, Sword Tail. Smetacek hatte gleich den Lehrerstab ergriffen und wollte über sein Lepidoptarium sprechen.
Exil in Kalkutta
Ich unterbrach ihn, denn zuerst wollte ich die Geschichte seiner Familie hören. Der Name Smetacek klang fast so exotisch wie jene seiner Motten, und mit ihm verbanden sich, das wusste ich noch, nicht nur ‚Schmetterlinge’, sondern auch Ausdrücke wie ‚Tipu Sultan’, ‚Bata’, ‚Sudetenland’.
Ja, sagte Peter, seine Mutter stammte von der Familie Tipu Sultans ab, dem südindischen Herrscher, der am Ende des 18.Jahrhunderts mit der militärischen Hilfe von Napoleon die Expansion Grossbritanniens zu stoppen versuchte. Er starb 1799 bei der Eroberung seiner Hauptstadt Seringapatnam durch britische Truppen, darunter den Reisläufern des neuenburgischen Régiment De Meuron. Seine Kinder wurden hingerichtet, doch der Familie seines Bruders gestanden die Sieger das Exil zu. Sie wurde in einem kleinen Palast in Kalkutta untergebracht, und dort wurde 1920 auch Peter Smetaceks Mutter geboren.
Flucht nach Hamburg
Es waren die Wirrnisse des Zweiten Weltkriegs, die ihren Namen – Shahada Ahad – in Smetacek verwandelten. Fred Smetacek war ein sudetendeutscher Tscheche, der 1939 auf der Flucht vor den Nazis in Kalkutta gelandet war. Er war an einem Komplott gegen Hitler beteiligt gewesen, als dieser im Frühjahr 1939 das Sudetenland besuchte. Der Plan flog auf, doch Smetacek gelang die Flucht nach Hamburg, wo er auf einem Frachtschiff anheuerte. Als dieses kurz vor Ausbruch des Weltkriegs in Kalkutta anlegte, setzte er sich ab.
Er fand Anstellung in der Schuhfabrik Bata, nicht zuletzt weil er mit dem Firmengründer Thomas Bata die tschechische Herkunft teilte. Dieser hatte ausserhalb Kalkuttas eine ganze Fabrikstadt namens Batanagar errichtet. In Kalkutta traf Smetacek 1941 bei einer Party die junge Shahada. Dank ihrer Tante Begum Noor – hinter dem Namen verbarg sich eine russische Emigrantin namens Vera Alexandrowa – konnte Shahada hie und da den streng gehüteten Frauentrakt der Ahad-Residenz verlassen.
Gutes ökologische Umfeld
Es war Liebe auf den ersten Blick, und die Nachfahrin eines südindischen Königs heiratete – nach hartem Widerstand der Familie – den Sohn eines k&k-Forstingenieurs. Sie war den Preis wert – Bekehrung zum Islam und Wiedertaufe als Badruddin Ismet Sheikh – umso mehr als er nach der erfolgreichen Brautschau seinen alten Namen wieder hervorholen konnte.
Im Jahr 1949 besuchte der ehemalige Forstrat Viktor Smetacek Sohn und Schwiegertochter in Bhimtal, wohin sich das Paar mit den Buben nach dem Krieg zurückgezogen hatten. Er war es, der – kurz vor seinem plötzlichen Tod im Himalaya – mit Schmetterling-Sammeln begann. Fred tat es ihm nach. Seine Kollektion wuchs rasch, dank dem Umstand, dass die besondere ökologische Senke um den See zahlreiche Spezies beherbergte. Als der Museumskäfer 1980 zuschlug, war sie auf 240 Arten gewachsen.
Schmetterlingsammler?
Zusammen mit seinem Bruder Fred Jr. – dem nachmaligen Besitzer von Fred’s Place – machte sich Peter daran, die Sammlung neu aufzubauen. Er tat dies anhand einer wissenschaftlichen Systematik, sagte er uns, die es erlauben würde, sich mit anderen indischen Sammlungen auszutauschen. Diese sind allerdings allesamt in Staatsbesitz und beinahe keine von ihnen ist öffentlich zugänglich – was Peter den Verdacht schöpfen liess, dass sie vermutlich in schlechtem Zustand, wenn nicht halb zerstört waren.
Das romantische Bild des Schmetterlingfängers entspricht allerdings nicht der Realität, meinte Peter Smetacek, als er in einem Interview auf seine Passion angesprochen wurde. Schmetterling-Sammeln ist in Indien praktisch unbekannt. Einmal sei er verhaftet worden, weil seine Berufsangabe – Butterfly catcher – die Polizei den Verdacht schöpfen liess, er sei im Mädchenhandel beschäftigt.
Die kostbare Sammlung im baufälligen Langhaus – landesweit die grösste private Kollektion – spiegelte diese Gleichgültigkeit der indischen Öffentlichkeit. Meine Begleiterin meinte, die Milben könnten jederzeit wieder zuschlagen. Insofern spiegelte Peter’s Nest die dramatische Verengung des Lebensraums der Motten. Bhimtal mit seinem wuchernden Häuserbau war ein abschreckendes Beispiel gleich vor der Tür. Smetaceks einziger Trost war, dass er nun über eine lückenlose Datei aller Spezies verfügte, von denen einige bereits ausgestorben, und viele Andere als ‚gefährdet’ klassifiziert werden mussten.
Paradoxes Handeln
Diese paradoxe Zwitterstellung – Überleben nur in der Erinnerung – war auch ihm bewusst. Im erwähnten Interview artikulierte er sein Misstrauen gegenüber der eigenen Sammlerleidenschaft. „I have found this an intriguing fact with us humans”, las ich später im Google-Eintrag. “Even the champions of wildlife conservation and vocal defenders of animal rights seem to perceive ‘animals’ as mere objects. Their world view appears to be based on the premise that we are humans and everything else is either to be protected or exploited…”.
Auf der Rückfahrt über die holprige Strasse nach Bhimtal kamen wir an einer Reihe von alten Autos vorbei. Wir wussten nicht so recht, ob es eine Sammlung von Oldtimern war – oder ein Autofriedhof. Es erinnerte an das Dilemma dieses Ur-Neffens von Tipu Sultan und Enkel eines sudetendeutschen Försters, der Schmetterlinge jagte und ertränkte – um sie zu bewahren.