“Du bist wirklich Albertos Sohn”, staunte der Mann. „Damals in den Wäldern beaufsichtigte ich dich. Wir fuhren dich im Schubkarren herum. Du siehst Alberto wirklich sehr ähnlich.“
„Ich war sehr verwirrt. Ich habe ihm nicht richtig geglaubt“, erinnert sich Vitor Kaimanu da Costa an jenes erste Treffen mit seinem Onkel. Nie wird er das Datum vergessen, den 16. Januar 2005, jenen Tag, an dem ihn sein Onkel nach Hause brachte.
Nach Java entführt
25 Jahre zuvor hatte ein Tenaga Bantuan Operasi (TBO) – der Handlanger jedes indonesischen Soldaten, der ohne Bezahlung für ihn kocht, die Stiefel putzt, die Ausrüstung und auf Patrouille oder im Einsatz den Proviant und die Munition trägt – den dreijährigen Vitor vor der Baguia-Kirche in Baucau, der zweitgrößten Stadt Osttimors, einfach geschnappt und dann zusammen mit zehn anderen Kindern nach Jakarta gebracht. In der Familie, der er zugewiesen wurde, war er jedoch unerwünscht. Seine Stiefmutter, die schon drei eigene Kinder hatte, sah in ihm nur eine zusätzliche Last. So wurde er von Familie zu Familie geschoben.
Zwar wusste er über seine Herkunft und Identität nicht mehr, als dass sein Vater „groß“ war und in einer Miliz in Baguia, Viqueque und Los Palos (Osttimor) diente. Mehr hatte ihm sein Stiefvater nicht erzählt. Darum aber schloss er sich schon als Teenager den Protestbewegungen gegen die anhaltende indonesische Besetzung Ost-Timors an, organsierte Demonstrationen und Arbeiterstreiks. Diese Aktivitäten brachten ihn prompt in Jakartas Cipinang-Gefängnis, wo er auch Xanana Gusmao traf, den zu lebenslanger Haft verurteilten Guerillaführer und späteren Präsidenten Ost-Timors.
2004 schließlich hatte er sich auf die Suche nach seinen Eltern gemacht. Und nun hatte er tatsächlich Kontakt zu seiner Familie gefunden. Er traf weitere Verwandte, die Verständigung war schwierig, weil die meisten nur Tetun, eine der drei einheimischen Sprachen Osttimors, verstanden. Seine Eltern waren schon verstorben, erfuhr er. Auch Vitor war nach lokaler Tradition mit seinem Verschwinden 1980 gestorben, auf seinem Grab stand ein einfacher Grabstein. Darum musste er zunächst in einer besonderen Zeremonie als Familienmitglied „wieder zum Leben erweckt werden“. Erst dann konnte der Grabstein entfernt werden, und durfte er das Grab seiner Eltern besuchen. Aber bis heute sucht er seinen Bruder Batista.
Von den Eltern getrennt
Isabelinha Pinto war 1979 sechs Jahre alt, als ihre Mutter Balbina da Costa Soares und ihre Tante Manakau sie nach Baucau mitnahmen, wo ihr Vater, Manuel de Jesus Pinto, die Adoptionspapiere unterschrieb, mit denen ein Unteroffizier der indonesischen Streitkräfte ihr neuer Vater wurde.
Auf einem Boot verließ Linha, wie sie genannt wird, ihre Heimat. Linha war traurig und weinte. An Bord waren noch eine Menge weiterer Kinder, die auch weinten. Auf hoher See wurden sie von einem Truppentransporter übernommen. Die Offiziere drohten, sie über Bord zu werfen, wenn sie nicht aufhörten zu weinen. Schließlich wurde sie zu einer Familie in Bekasi, eine der Trabantenstädte in Jakartas Industriegürtel, gebracht. Ihre Stiefmutter und die fünf Stiefbrüder mochten sie nicht und behandelten sie schlecht, erzählt sie heute. Sie musste jeden Tag um vier Uhr morgens aufstehen und die Wäsche der ganzen Familie waschen. Sie bekam nur eine Mahlzeit am Tag.
Dann wurde sie zur Familie ihres Stiefvaters in Manado (auf Sulawesi) gebracht, wo sie aber ebenso wenig willkommen war. Als sie zehn war, eröffnete ihr die Familie, sie wolle nicht länger für ihre Schulausbildung bezahlen und gaben sie an eine andere Familie. Als sie die elfte Klasse erreichte, musste sie nach Bekasi zurückkehren, wo sich aber nichts geändert hatte. Die ganze Familie hasste sie, und ihr Stiefvater missbrauchte sie. „Das hatte er schon früher getan“, sagt sie völlig emotionslos, „alles, außer Vergewaltigung.“
Wiedersehen mit der Familie
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und floh. Sie nahm jede Arbeit an. Eines Tages traf sie in Yogyakarta (Zentraljava) Landsleute aus Osttimor, wo sie eine Familie aufnahm, und wo sie auch ihren Mann kennenlernte, mit dem sie heute zwei Kinder hat und wieder in Bekasi lebt. Im Juni 2009 erhielt sie unerwartet einen Anruf von einem Vetter aus Osttimor. „Ich konnte es nicht glauben. Ich zitterte.” Am nächsten Tag klopfte ein junger Mann an die Türe in Bekasi. Er musste lange warten. Aufgeregt betete sie vor dem Kruzifix. Erst auf das Drängen ihrer Kinder brachte sie den Mut auf, den Fremden zu treffen. Er war der Sohn ihrer Tante und wusste von Linhas leiblicher Mutter, dass die Narbe einer Brandwunde ihren linken Arm zeichnen musste. Sie streifte den Ärmel ihrer Bluse hoch, und da war die Narbe. Beide brachen in Tränen aus.
Am 18. Dezember 2009 trafen Linha, ihr Mann und die Kinder zum ersten Mal in Dili ein. Wie Vitors Angehörige so hatten auch ihre Eltern längst einen Grabstein für sie errichtet. Darum durfte sie das Elternhaus erst nach einer Reihe von Ritualen, die sie zum Leben in der Familiengemeinschaft wiedererweckten, betreten. Es stellte sich heraus, dass Linha von hoher Geburt war, sie war die Nachfahrin timoresischer Könige. „Wir waren verwirrt, als wir gebeten wurden, zu tanzen“, erzählt Linha heute lachend. „Wir bewegten uns ziemlich unbeholfen, so gut wir eben konnten.“ Als sich die Andern dem Tanz anschlossen, war Linha wieder ein Mitglied ihrer Familie geworden.
Die Indonesierung Osttimoresischer Kinder
Isabelinha und Vitor sind zwei von Tausenden osttimoresischer Kinder, die zwischen 1975 und 1999 nach Indonesien gebracht wurden, teilweise mit Einwilligung, teilweise gegen die Proteste der Eltern. Sie wuchsen in Indonesien auf, gingen dort zur Schule und verloren dabei ihre timoresische Kultur, oft sogar die Fähigkeit, mit ihren leiblichen Eltern und Familien zu kommunizieren.
1974 stürzten junge Offiziere in ihrer sogenannten Nelkenrevolution die Diktatur in Lissabon und lösten Portugals Kolonialreich auf, zu dem neben Angola, Mozambique und Macao auch der Ostteil der kleinen Insel Timor gehörte. Für einige Monate hing Osttimors Zukunft in der Schwebe. Dann, am 7. Dezember 1975, marschierten indonesische Truppen ein, um es zu einem Teil Indonesiens zu machen. Es folgten Jahre der Unterdrückung. Die neue Kolonialmacht siedelte Javaner aus Madura, Bugis und Makassaren aus Sulawesi an, um die neue Provinz zu „indonesieren“. Sie zwang Menschen, indonesische Staatsbürger zu werden, setzte Indonesisch als Amtssprache durch, verbot portugiesische Bücher als „kommunistisches Gedankengut“ und entführte Zehntausende Waisenkinder, um sie auf Java im muslimischen Glauben zu erziehen und die Bevölkerungszahl niedrig zu halten. Sie bombardierte Dörfer, zerstörte Archive, konfiszierte Häuser, Vieh oder Reisvorräte, plünderte Wohnungen und führte einen unerbittlichen Krieg gegen den Widerstand, die Fretelin (Revolutionäre Front für ein unabhängiges Osttimor). Die ersten beiden Jahre der Auseinandersetzungen floh praktisch die Hälfte der Bevölkerung in die Berge, in Wälder und in Höhlen, um dem Gemetzel zu entkommen. Als Osttimor 1999 endlich unabhängig wurde, waren 250 000, ein Drittel der Bevölkerung, dem Krieg zum Opfer gefallen. 40 000 Kinder hatten keine Eltern mehr.
Doch nicht nur Waise sollten ihrer Kultur, ihrer Herkunft, ihrem Land entfremdet und indonesiert werden. In Tausenden Fällen „überzeugten“ Besatzungssoldaten Eltern oft mit einem Sack Reis und ein paar Münzen oder auch nur mit ihrer Machtposition, dass diese ihre Kinder zur Adoption freigaben. Sie wurden bei indonesischen Familien, in islamischen Religionsschulen und anderen Institutionen untergebracht.
Viele Eltern wagten nicht, einem Soldaten zu widersprechen, wenn er ihr Kind forderte. Manche, die sich außerstande sahen, ihre Kinder zu ernähren, gaben sie freiwillig zur Adoption – jedoch immer in der Annahme, dass der Kontakt bestehen bleibe, und dass der Sohn oder die Tochter nach Abschluss der Schulausbildung wieder zurückkäme. Vor allem in den ersten Jahren der Besatzungszeit waren Zehntausende eingesperrt in Konzentrationslagern und verhungerten, weil die Besatzer gezielt Nahrungsmittelknappheit erzeugten, um zu verhindern, dass die sympathisierende Bevölkerung Nahrungsmittel an die Guerilleros der Fretelin weitergab. Damals war es Soldaten ein leichtes, sich ein osttimoresisches Kind zu beschaffen. Gelegentlich gaben Mütter ein Baby her, um damit eine ältere Tochter vor einer drohenden Vergewaltigung zu bewahren.
In anderen Fällen zeigten Soldaten Mitleid mit einem Kind und retteten es aus einer Gruppe von Leuten, einschließlich der Eltern, die erschossen werden sollten. „Ein solches Kind war Amelia, die zwei Jahre alt war, als ihre Eltern und Andere in der Nähe von Baucau erschossen wurden. Der Patrouillenführer nahm Amelia, trug sie für den Rest des Einsatzes und nahm sie später mit in seine Heimat auf Sulawesi“, erwähnt Helene van Klinken von der australischen Monash University in ihrer Untersuchung „Making them Indonesians“ einen derartigen Fall. Allerdings war „Amelia hellhäutig… Osttimoresen aus allen sozialen Schichten berichteten mir, dass sie den Eindruck hätten, dass indonesische Soldaten gezielt hellhäutige Kinder zur Adoption ausgesucht hätten.“
Eine verbreitete Taktik von Besatzer
In nahezu allen Fällen derartigen „Menschenhandels“, wie es die Vereinten Nationen nennen, behaupten die Täter, „den Kindern nur helfen zu wollen, doch die Umsiedlung basiert auf einer ungleichen Beziehung“, schrieb van Klinken. „Die umsiedelnde Person ist ausnahmslos reich oder mächtig.“ Die Umsiedlungen seien humanitäre Maßnahmen, wird meist erklärt. Tatsächlich aber stünden immer politische und rassistische Absichten im Vordergrund, wenn Besatzer oder Kolonialisten Kinder der Unterworfenen in ihre Obhut nähmen.
So ließ die Regierung in Canberra zwischen 1915 und 1969 40 000 Aborigine-Kinder zwangsweise umsiedeln und brachte sie bei weißen Familien unter. Das Ziel war, ein Weißes Australien zu schaffen und zu erhalten. “Die Kinder der Aborigines brauchten Hilfe, um eine weiße Identität zu entwickeln“, so van Klinken. Die Franzosen nahmen in den ersten vierzig Jahren des letzten Jahrhunderts 3500 Kinder von Mischehen den Eltern weg und brachten sie aus Westafrika nach Frankreich, wo sie zu loyalen, weißen Franzosen erzogen wurden, um später nützliche Verwalter der Kolonien zu werden. In einer der größten derartigen Umsiedlungsaktionen schmuggelten die USA mit der Hilfe der katholischen Kirche zwischen 1960 und 1962 in der „Operation Pedro Pan“ 14 000 Kinder der kubanischen Mittelschicht in die Südstaaten der USA. Damit sollten dem kommunistischen Regime Fidel Castros Wissen, Reichtum und zukünftige Führer und Funktionäre entzogen werden. Die Sowjetunion transferierte nach der Invasion in Afghanistan (1979) elternlose Kinder in die UdSSR, um sie dort zu guten und überzeugten Kommunisten zu erziehen, die später in Führungspositionen in dem unregierbaren Land dienen sollten. Argentinische Offiziere um die Putschgeneräle Videla, Viola und Galtierri gingen während des „schmutzigen Krieges“ (1976-1983) sogar dazu über, Oppositionelle zu ermorden und anschließend deren Kinder zu adoptieren und neue Identitäten zu geben. Schwangeren Frauen wurde oftmals erlaubt, die Kinder zunächst auszutragen, bevor sie „verschwanden“. 300 derartige Fälle wurden bekannt. Heinrich Himmler ließ Kinder polnischer Widerstandskämpfer, die entweder ermordet oder ins Konzentrationslager geschickt wurden, bei deutschen Pflegefamilien im Reich unterbringen. Ihre gute deutsche Erziehung und Ausbildung werde sie zu loyalen Deutschen machen, begründete er die Maßnahme.
Kinder als Kriegsbeute
Am leichtesten war es für einen indonesischen Soldaten, der nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst eine helfende Hand für sein Reisfeld auf einer der zahlreichen Inseln des Archipels brauchte, einen TBO mitzunehmen. Der war ja schon im Dienst sein Handlanger und Sklave, arbeitete ohne Bezahlung und ohne Rechte nur für seine tägliche Schale Reis. João Gonzalvez war 16, als er im Letefoho-Konzentrationslager als TBO zwangsrekrutiert wurde. Etwa zur gleichen Zeit wurde seine 15jährige Cousine in die Prostitution gezwungen. Die magere Kost, die sie erhielten, half ihrer Familie immerhin, zu überleben. Zu Joãos Aufgaben gehörte es, dass er Landsleute beerdigte, die an Hunger oder Krankheit gestorben waren, manchmal bis zu zwanzig am Tag. In den ersten Jahren nach der indonesischen Invasion überlebten durchschnittlich von jeder zehnköpfigen Familie im Lager nur ein oder zwei, erinnert sich João. Sogar in seiner Familie starb die Hälfte trotz der Hilfe, die er und seine Cousine leisteten: seine ältere Schwester und ihre beiden Kinder, sein jüngerer Bruder und seine einzige Tante, die bei ihm lebte. Als sein Vorgesetzter versetzt wurde, nahm er ihn ohne zu fragen mit. „Soldaten behandelten diese Jugendlichen als ihre persönlichen Sklaven“, urteilt Helene van Klinken. „Die Art, wie manche Soldaten über sie entschieden, zeigt, dass Soldaten sie als ihren persönlichen Besitz betrachteten.“