Die ersten Bilder beim Verlassen der Flughafenhalle bestätigen die Erwartung. Sie sind gesprenkelt mit schwarzen Flecken – die Abayas der iranischen Frauen. Sie fesseln im Nu den Blick des Besuchers, der das Klischee schwarzverhüllter Iranerinnen ohnehin bereits im Kopf gespeichert hat. Der scharfkalte Teheraner Wind plustert die Kleider noch auf und macht das Schwarz vollends zum beherrschenden Farbeindruck.
Drei Wochen später, am Ende der Reise, hat sich das Schwarz der Abayas auf eine Reihe von Punkten verstreut. Dazwischen: Kopftücher in einer breiten Palette von meist modischen Grautönen. Wir waren in der Islamischen Republik Iran gelandet und in Persien – hier verstanden als zivilisatorischer Begriff – angekommen. Verzettelte Eindrücke verfestigten sich allmählich zur Erfahrung, dass sich eine jahrtausendealte Kulturgesellschaft nicht ohne weiteres von einer revolutionären Ideologie vereinnahmen lässt.
Dominantes Schwarz
Zugegeben, das Schwarz war und blieb ein ständiger Begleiter, als Ganzkörper-Abaya, aber auch als Hijab. Und wir sahen nur wenige Frauen ohne Kopftuch, darunter eine, die sich den Kopf kahlgeschoren hatte (was die Frage aufwarf, ob der Hijab eigentlich den Kopf oder das Haar zu bedecken hat). Es war offensichtlich, dass die feministische Anti-Hijab-Kampagne vor zehn Jahren mit dem brutalen Einschreiten des Staats im Keim erstickt worden war.
Doch war es wirklich so? Allmählich festigte sich der Eindruck, dass sich nur die Form der Auflehnung verschoben hatte. Plötzlich sahen wir nämlich neben dem eintönigen Schwarz zahlreiche Farbschattierungen, allerlei Formen des Tragens, und vor allem: sorgfältig herausgeputzte Gesichter. Es war, als riefen die jungen Frauen den Mullahs zu: Ihr wollt am Hijab festhalten? Gut, dann machen wir eben ein modisches Accessoire daraus!
Nicht nur waren die Tücher farblich adrett mit dem Rest des Kleids assortiert; mal waren sie schmal und fest gebunden, mal wehten sie breit über Hals und Schultern; oder sie wurden über der Achsel gerafft und geknotet und fielen mit Grandezza über das Kleid. Die biederen Mäntel, die als Abaya-Ersatz alle Körperrundungen zudecken sollen, waren oft zu modischen Capes mutiert oder zu elegant geschnittenen Pelerinen mit breitem Gürtel.
Das Resultat: Statt das Gesicht auf Augen, Nase und Mund einzuengen, wurde das Kopftuch der Bilderrahmen, der das Gesicht effektvoll in Szene setzt. Das Gesichtete war zudem nicht auf die drei Sinnesorgane reduziert, sondern konnte gern ein bisschen Hals freigeben und immer mehr sorgfältig gestyltes Kopfhaar – das Corpus Delicti der Traditionalisten.
Intelligent unterlaufene Körperfeindlichkeit
Es war, so empfand ich es, ein intelligentes Unterlaufen der finsteren Körperfeindlichkeit der greisen Religionshäupter, eine Herausforderung, die das strenge Gebot befolgt und es gleichzeitig in ihr Gegenteil kehrt – Schönheit und Lebensfreude als subtilere Waffe als Wut und Zorn.
Nicht nur die Matronen in ihren schwarzen Abayas traten im öffentlichen Raum fast immer in Gruppen in Erscheinung. Auch die jungen iranischen Frauen tun dies, entdeckten wir, zweifellos die Folge der strengen Geschlechtertrennung. Und was taten diese kleinen Schwärme in den Gärten, Strassen, Bazars, Museen? Sie liessen sich, frisiert und geschminkt, abwechslungsweise fotografieren, in allen Posen, Konstellationen, Hintergrund-Settings, als wären sie Models. War es, überlegten wir uns in unserer kleinen Reisegruppe, ein Verliebtsein in die eigene Körperlichkeit? War es ein Ausdruck von Selbstbehauptung in einem Staat, der den weiblichen Körper aus der Öffentlichkeit verbannen will?
Falls dies das Ziel ist, dann haben die Mullahs klar versagt. Die Gärten von Isfahan und Shiraz beweisen es. Wie alle ausländischen Touristen besuchen auch wir die wunderschönen alten Anlagen. Aber nicht sie geben den Ton an. Es sind Iraner, die sie täglich bevölkern, Gruppen von Abaya-Trägerinnen, Schülerinnen, junge Soldaten im zivilen Ausgangs-Tenue, Familien, die sich zum Picknick auf dem Rasen niederlassen. Manchmal sah es aus wie Kew Gardens oder der Jardin des Plantes an einem Sonntagnachmittag – in Shiraz war es Alltag.
Volksdichter Hafiz
Am meisten erstaunte uns die Menschenmenge im prächtigen Garten, der das Mausoleum des Nationaldichters Hafiz beherbergt. Ich bin überzeugt, dass es keinen anderen Dichter auf der Welt gibt, dessen Grab so dicht umdrängt ist. Natürlich hat es auch mit dem iranischen – persischen – Brauch zu tun, für die Hochzeitsreise einen Besuch beim Mystiker der Liebe einzuplanen. Der Treueschwur gehört dazu, das Berühren der Marmorplatte über der Gruft – und natürlich ein Selfie.
Doch Hafiz ist weit mehr als nur ein Dichter für Verliebte, so vernahmen wir. Obwohl sein Tod inzwischen 630 Jahre zurückliegt, ist er immer noch ein Volksdichter. Dessen Ghazals werden nicht nur in Schulen gelernt und an Mushairas – öffentlichen Lyrikabenden – rezitiert. Es komme in seinem Freundeskreis immer wieder vor, sagte unser Reiseleiter in Shiraz – ein Flugzeug-Ingenieur von Beruf –, dass einer mit einem Hafiz-Vers einsetzt, den ein Zweiter aufnimmt und ein Weiterer fortsetzt, bis das Gedicht zu Ende rezitiert ist.
Religiös legitimierte Sinnlichkeit
Hafiz war nicht ein Liebesdichter, wie Goethe es war (und wie dieser ihn im West-östlichen Divan einführte). Er war ein Sufi-Mystiker, der religiöse Philosophie in Verse fasste. Die Liebespartnerin genauso wie der Pokal und die Weinschenke sind Metaphern, die das (Liebes-)Verhältnis zwischen Mensch und Gott umschreiben.
Umso erstaunter war ich, als ich las, dass selbst die islamische Republik Hafiz als Eigengewächs beansprucht. Als der Dichter Ahmad Shamlu in den siebziger Jahren Hafiz als Freidenker bezeichnete, der jede Macht und Autorität ablehnt, warf sich ausgerechnet Ayatollah Motahari, so etwas wie der Chefideologe Khomeinis, ins Zeug. Hafiz sei ein tiefgläubiger Muslim gewesen. Der Beweis: Hafiz’ selbstgewählter Künstlername bezeichne einen Gelehrten, der den gesamten Koran auswendig kennt.
Dies mag erklären, dass Hafiz’ sinnliche Sprache, mit all ihren Anspielungen auf den Liebesakt, den Weingenuss, die fröhliche Tischrunde heute im ganzen Land frei zitiert werden kann, ohne dass eine Anzeige erfolgt. War dies nicht, so sinnierte ich, eine ähnlich subversive rhetorische Geste wie die Kleider- und Körpersprache der jungen Frauen, wie die roten Stilettos, die unten aus der Abaya hervorgucken?
Gottesstaat ohne Gefolgschaft?
À propos Polizei-Anzeigen. Eine weitere Überraschung unserer ersten flüchtigen Iran-Bekanntschaft war die Polizei: Sie war praktisch nie anzutreffen. Ausser bei der Verkehrsregelung und auf Autobahnen sah ich in drei Wochen und dreitausend Kilometern drei patrouillierende Polizisten und einen einzigen Soldaten.
Natürlich waren wir nicht so naiv, zu meinen, Iran sei ein freier und bürgerfreundlicher Staat. Iranerinnen klagten über die institutionellen Kontrollen, die den Alltag gerade für Frauen manchmal zur Hölle machen, auch wenn es lediglich um eine Geschäftseröffnung geht. Wir wussten von den Folterkammern des Evin-Gefängnisses, und dass sich die gefürchteten Basij-Schlägertrupps meist in Zivil unters Volk mischen.
Doch wie alle grossen Länder der früheren Dritten Welt besitzt auch Iran ein junges Bevölkerungsprofil. Ich habe in Iran nicht nur wenige Polizisten gesehen. Ich sah auch nur wenige betende Menschen. Es waren nicht mehr als ein halbes Dutzend, trotz dem Besuch von 23 Moscheen und Schreinen. Die islamische Staatsordnung scheint dafür zu sorgen, dass der Islam seine Spiritualität aufs Spiel setzt. Die Iraner scheinen lieber in Gärten zu flanieren, als in der Moschee zu kauern.
Das beinahe letzte Bild der Reise, wieder auf dem Flughafen, diesmal in Shiraz. Wiederum eine junge Frau in der schwarzen Abaya. Doch auf dem Nasenrücken trug sie ein Wundpflaster – und dies mit einer Selbstverständlichkeit, die an Stolz grenzte. Nach drei Wochen Iran wusste ich sofort, was es bedeutete. Die Frau hatte sich einer Schönheitsoperation unterzogen. Angeblich zehn Prozent aller Iranerinnen tun dasselbe: Sie lassen ihre kantigen persischen Nasen einebnen.