Wenn ich früher etwas über die Russische Oktoberrevolution und ihre Folgen wissen wollte, griff ich zu Band IX der Propyläenweltgeschichte. Propyläenweltgeschichte?
Zwangsläufigkeit der Geschichte?
Das war die von Golo Mann herausgegebene monumentale, grossartig illustrierte Gesamtschau des Weltgeschehens, in der Historiker aus aller Welt von verschiedener politischer Haltung ihr Fachgebiet präsentierten. Erstmals wirkten an diesem Werk auch Gelehrte aus Übersee mit; man hatte erkannt, dass Europa aufgehört hatte, der Nabel der Welt zu sein.
In Band IX befand sich der Aufsatz von Valentin Gitermann zur Russischen Revolution und ihren Folgen. Gitermann stammte aus der Ukraine, war Lehrer für Geschichte an der Zürcher Töchterschule und vertrat die SP während zwanzig Jahren im Nationalrat. Er verfügte über eine Kenntnis der russischen Geschichte, die damals im Westen Seltenheitswert hatte. In seinem Aufsatz ging er mit den Verbrechen des stalinistischen Regimes hart ins Gericht, billigte aber dem Sowjetkommunismus bei aller Kritik eine ethische Qualität zu, die ihn von Faschismus und Nationalsozialismus abhob, sei es doch das erklärte Ziel des Kommunismus gewesen, die Gesellschaft gerechter und die Menschen glücklicher zu machen.
Gitermann verurteilte das zaristische Regime scharf, gab der provisorischen Regierung Kerenskis keine Chance und schrieb wörtlich, die Machtergreifung des Bolschewismus sei „aus den gegebenen Verhältnissen mit unabwendbarer Zwangsläufigkeit“ hervorgegangen. Das Wort „Zwangsläufigkeit“ irritierte den Herausgeber. Liberal wie er war, forderte Golo Mann Gitermann nicht zu einer Abänderung seines Textes auf, was dieser wohl verweigert hätte, konnte sich aber nicht enthalten, im Vorwort über dessen Beitrag maliziös zu schreiben: „Wenn wir nicht umhin können, einer solchen Geschichtsphilosophie gegenüber unseren Vorbehalt anzumelden, so weisen wir umso lieber auf den Reichtum der Darstellung hin.“
Stalins sozialer Holocaust
Heute liegt mit dem Werk des englischen Historikers Orlando Figes „Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert“ (1) eine neue Gesamtdarstellung vor. Figes unterteilt den Zeitraum vom Sturz des Zaren bis zum Ende der Sowjetunion in drei Phasen. Die erste Phase entspricht der Lebenszeit der Altbolschewisten bis zum Aufstieg Stalins zur Alleinherrschaft in den Jahren 1924 bis 1929. Es folgt das, was Figes Stalins „Revolution von oben“ nennt, der gewalttätige Versuch des Diktators, durch brutalen Terror und rücksichtslose Planwirtschaft einen radikalen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen.
Der Autor sieht in der Kollektivierung der Landwirtschaft, die er als „sozialen Holocaust“ bezeichnet, den Hauptgrund für das Scheitern von Stalins gigantischem Projekt. Er schildert anschaulich, wie ausgerechnet der Todfeind des Bolschewismus, Hitler, dem russischen Diktator durch seinen Russlandfeldzug zum ruhmreichen Status des siegreichen Vaterlandsverteidigers verhalf und dadurch dessen Herrschaft möglicherweise verlängerte. Die dritte Phase lässt Figes mit der Rede von 1956 beginnen, mit der Chruschtschow die Entstalinisierung einleitete, ohne sich aber von den Grundirrtümern Lenins befreien zu können.
Gegen Schluss seines Buches bekundet Figes begreifliche Mühe, auch noch den Zusammenbruch der Sowjetunion mit dem Stichwort der „Revolution“ erfassen zu können, und hier zeigt sich eine Schwäche dieses Buches, das den Gesamtverlauf der neueren russischen Geschichte vom Begriff der Revolution her zu deuten sucht. Über die Zukunft Russlands urteilt Figes skeptisch. „Es wird viele Jahrzehnte dauern“, schreibt er, „bis die Russen von den sozialen Traumata und Pathologien des sowjetischen Regimes geheilt sind.“ Wer würde ihm da nicht beistimmen?
Gelehrsamkeit und Freisinn
Orlando Figes Darstellung steht in der grossen angelsächsischen Tradition der erzählenden Geschichtsschreibung. Er weiss überaus spannend zu schildern, greift gern zu brillanten stilistischen Wendungen und urteilt mit zuweilen etwas undifferenzierter Entschiedenheit. Auf die aktuelle Forschungsdiskussion tritt er nicht ein. Gut möglich, dass Spezialisten manches Haar in dieser würzig aufgekochten Suppe finden. Dem interessierten Laien aber lässt sich dieser Überblick zur kritischen Lektüre durchaus empfehlen.
Noch ein Wort zu Valentin Gitermann, der es in der Zeit des Kalten Krieges unserem Land nicht leicht hatte. Noch erinnere ich mich, wie Professor Leonhard von Muralt, ein Verehrer Bismarcks, der vorzeitig alterte, weil er diese Verehrung nie in Frage stellte, sich in einer seiner Vorlesungen rühmte, verhindert zu haben, dass der „Kommunist“ Gitermann einen Lehrauftrag bekommen habe. Mehr Glück hatte da der „Kremlologe“ Ernst Kux, Russlandspezialist der „Neuen Zürcher Zeitung“ und Lehrbeauftragter an der Universität. In gut besuchten Vorlesungen sprach Kux mit solcher Bestimmtheit von derart unerforschlichen Gestalten wie Molotow, Malenkow und Berija, dass eine staunende Hörerschaft sich fragte, wo der Mordskerl wohl sein Wissen hergeholt habe.
Zürich hatte damals eine bürgerliche Universität, und Gelehrsamkeit und Freisinn waren Synonyme. Wie hat sich doch alles seither geändert! Heute würde man eine Persönlichkeit wie Gitermann am Historischen Seminar wohl mit offenen Armen willkommen heissen. Betagte Betrachter, die den Zeitläuften über eine längere Wegstrecke folgen durften, mögen geneigt sein, von ausgleichender Gerechtigkeit zu sprechen.
(1) Orlando Figes, Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert, Hanser Verlag Berlin 2014.