Es ist ein Indiz für eine wache Zivilgesellschaft. Gleichzeitig demonstriert er, wie die Regierung die eigenen demokratischen Institutionen aushöhlt.
Nur dreihundert der rund 50’000 Telefone sind in Indien mit der Pegasus-Software infiziert worden. Doch in keinem anderen Land war sie so direkt gegen demokratische Institutionen eingesetzt worden wie in Indien. Und in keinem anderen Land hat der Verdächtige Nummer eins – die Regierung von Narendra Modi – so dreist Nichtwissen simuliert und den Enthüllern der Hacker-Angriffe politische Motive unterschoben.
Erst rund einhundert der betroffenen Nummern, die der französische Cyber-Watchdog Forbidden Stories für die indische Vorwahl +91 ausgemacht hatte, konnte die indische Partnerorganisation The Wire bis heute identifizieren. Aber deren Fussabdruck ist offenbar deutlich genug, um feststellen zu können, dass die Bespitzelung auf politische Gegner angesetzt worden ist und nicht auf solche, welche die nationale Sicherheit des Landes gefährden würden – der einzige Grund, der den Hacker-Angriff legitimieren könnte.
Missliebige Medien
Aber nicht nur politische Gegner wurden zur Zielscheibe, sondern zentrale Institutionen des demokratischen Prozesses wie die Nationale Wahlkommission, das Oberste Gericht, hohe Beamte wie der Chef der nationalen Kriminalpolizei, Parlamentspräsidenten, Oppositionsführer und selbst Regierungsminister.
Und natürlich missliebige Medien. In Indien kam die Untersuchung ins Rollen, als die Pariser Cyber-Jäger das Internet-Nachrichtenportal The Wire als Opfer der Hacker-Angriffe identifizierte. Sie nahmen Kontakt mit dessen beiden Gründern auf. Diese stellten darauf ein Team zusammen, das daran ging, die Nutzer der Nummern zu identifizieren. Sie taten dies mit der technischen Unterstützung von Amnesty International und jener der Delhi-Korrespondenten von Washington Post und Le Monde.
Der Wire ist ein mediales Start-Up, das als gemeinnütziger Verein firmiert und sich von Spenden seiner Leser finanziert. Seine Unabhängigkeit von kommerziellen Investoren hat es ihm erlaubt, einen aggressiven investigativen, aber auch ideologiekritischen Journalismus zu betreiben. Dessen Zielscheibe sind meist Staat und Regierung sowie regierungsfreundliche Unternehmen, dies aus der wohlbekannten Einsicht, dass Macht korrumpiert, und absolute Macht – wie sie der Politiker Narendra Modi ausübt – absolut korrumpiert.
Modi-treuer Richter
Die Journalisten begnügten sich nicht damit, die betroffenen Personen zu identifizieren. Mit deren Hilfe gelang es ihnen auch, den Zeitpunkt der Hacker-Angriffe mit politischen Ereignissen oder Prozessen zu synchronisieren. So wurde die Pegasus-Software etwa auf Personen aus der Umgebung des Regierungschefs des Bundeslandes Karnataka angesetzt, kurz bevor dessen Regierung durch Überläufer gestürzt wurde. Dasselbe passierte dem Berater und dem Neffen der Regierungschefin von Westbengalen, Mamata Banerjiee, kurz bevor dort heiss umkämpfte Wahlen stattfanden.
Noch verheerender für die demokratischen Grundfesten des Landes war der Einsatz von Pegasus gegen einen der drei Kommissäre der unabhängigen Election Commission. Er hatte als Einziger für eine Massregelung von Premierminister Narendra Modi gestimmt, weil dieser im Wahlkampf von 2019 mit anti-muslimischen Äusserungen den strengen Code of Conduct verletzt hatte. Der Kommissär trat zurück, als die Regierung Verfahren wegen Steuerhinterziehung von Familienmitgliedern eröffnete.
Ebenso fatal war die Bespitzelung einer jungen Frau (und ihrer Familie), die den Obersten Richter des Landes der sexuellen Nötigung bezichtigt hatte. Es handelte sich um denselben Richter, Ranjoy Gogoi, der darauf eine Reihe aufsehenerregender Urteile fällte, die zugunsten der Regierung ausfielen. Dazu gehören etwa die Bewilligung des Baus eines Hindu-Tempels auf dem Boden der zerstörten Moschee von Ayodhya und der Kauf von 36 Rafale-Kampfbombern.
Akademiker, Journalisten, Anwälte
Beinahe jeder politische Konflikt der letzten Jahre findet einen Fussabdruck in den Smartphones von beteiligten Personen, seien es Politiker oder Journalisten, sei es in Assam (beim Versuch, indische Muslime als illegale Migranten zu stempeln und dann auszuweisen), oder in Kaschmir, sei es in Indien oder im nahen Ausland. Mehrere hundert pakistanische Nummern tauchen auf, darunter jene von Premierminister Imran Khan.
Bereits vor zwei Jahren hatte WhatsApp die Regierung darauf aufmerksam gemacht, dass 121 indische Anruf-Nummern von Pegasus gehackt worden seien, fast ausschliesslich jene von regierungskritischen Akademikern, Journalisten, Anwälten und Aktivisten. Damals gelang es der Regierung mit einem Ablenkungsmanöver – perfiderweise eine Klage gegen Facebook wegen Persönlichkeitsverletzungen! – die Vorwürfe ins Leere laufen zu lassen.
Nun zeigt sich, dass ausgerechnet die Journalistin des Indian Express, die damals die WhatsApp-Klage öffentlich gemacht hatte, ins Netz der Pegasus-Überwachung einbezogen wurde. Und es ist wohl kein Zufall, dass die Konten derselben Regimekritiker wiederum (oder weiterhin) gehackt werden. Zu ihnen soll auch jene des Jesuiten Stan Swamy gehören, der vor einem Monat in Spitalhaft gestorben ist.
Politischer Sturm
Es ist inzwischen erwiesen, dass «Bespitzelung» das falsche Wort ist, um die Spyware des israelischen Unternehmens NSO zu beschreiben. Es ist eine Software, die nicht nur alle Daten, Gespräche und Bilder stehlen kann. Sie kann im Smartphone fiktive Daten und Filme platzieren und Funktionen wie Film- und Höraufnahmen aktivieren, private Gespräche und Bildszenen aufnehmen, selbst wenn das Telefon nicht aktiv ist.
Auch in Indien verbietet das Gesetz den Einsatz solcher Mittel gegen Bürger und Institutionen, da sie eine schwere Verletzung des Rechts des Einzelnen auf Schutz seiner Privatsphäre darstellen und die Integrität demokratischer Institutionen gefährden. Die Enthüllungen des Wire am 18.Juli – denen bis heute beinahe fast täglich neue folgen – haben einen politischen Sturm ausgelöst. Ohne Staat und Regierung direkt anzugreifen, mündet er in der Frage, wer dafür verantwortlich sei. Wenn es die Regierung ist, müsse sie zurücktreten; wenn nicht, müsse sie Akteure in ihrem Umfeld – etwa den obersten Geheimdienstchef – identifizieren und gegen sie vorgehen.
Inzwischen hat sich die israelische Firma verteidigt und erklärt, sie verkaufe ihre «militärische» Software nur an «überprüfte» Regierungen. Man kann sich fragen, wie genau diese Regierungen «überprüft» worden sind, befinden sich unter ihnen doch in der Mehrzahl Staaten mit sehr schwachen demokratischen Kontrollen. Im Fall Indiens verweisen sowohl indische wie israelische Medien auf gegenseitige Besuche des indischen und israelischen Premierministers; bei jedem habe es Einzeltreffen der beiden gegeben, bei denen sogar Übersetzer ausgeschlossen worden seien.
Gegenangriff
Weitere Hinweise kamen aus Toronto, wo der gemeinnützige Cyber-Watchdog Citizen Lab beheimatet ist. Er liess verlauten, bei seinen Nachforschungen über die Käufer und Nutzer der israelischen Software habe er zwei Kunden aus Indien ausgemacht. Einer verfolge nur den Sprechverkehr bei nicht-indischen Nummern, der andere nur bei solchen im Inland. (Indien hat zwei Geheimdienste: RAW, «Research&Analysis Wing», für das Ausland, IB – «Intelligence Bureau» – für das Inland).
Angesichts dieser Verdachtsmomente hat die Regierung bisher sehr ungeschickt reagiert. Sie hat den Kauf der NSO-Software weder zugegeben noch verneint. Vielmehr ging sie zum Gegenangriff über und versucht, die Enthüllungen als politisch motivierte Schlammschlacht «anti-nationaler» Medien und einer «machtlosen» Opposition im Parlament zu qualifizieren. Innenminister Amit Shah erfand dafür sogar eine neue Bezeichnung: «Disruptors and Obstructors». Die Regierung von Westbengalen – selbst Opfer der Hacker-Angriffe – hat eine offizielle Untersuchungskommission eingesetzt. Mehrere Medien-Verbände haben Petitionen an das Oberste Gericht eingereicht; es wird sich diese Woche mit dem Fall befassen.
Wie bei zahlreichen anderen Massnahmen – die «Entstaatlichung» von Kaschmir etwa, das Vorgehen gegen streikende Bauern oder das Durchpeitschen eines anti-muslimischen Bürgerrechtsgesetzes – baut die Regierung darauf, dass die grosse Mehrheit der Bevölkerung darüber hinwegsieht und die Popularität des Premierministers jede Gesetzesverletzung auf die Seite wischen wird.
Bisher ist ihm dies gelungen, und es wäre leichtsinnig, die Wirksamkeit dieses zynischen Kalküls zu unterschätzen. Denn es hat sich in den sieben Jahren BJP-Regierung gezeigt, dass die Fundamente der hochgerühmten indischen Demokratie weit schwächer sind, als dies gemeinhin angenommen wird. Die kürzliche Umfrage des amerikanischen PEW-Instituts registrierte bei einem grossen Teil der Befragten Einstellungen, die nichts dabei finden, einen autokratischen («starken») Leader zu wählen, wenn es ihm gelingt, tiefsitzende Ängste mit identitären Parolen und Feindbildern zu überkleben.