Die Raffinerie beim litauischen Ort Mazeikiai wurde von der Sowjetunion für eine jährliche Verarbeitung von 12 Millionen Tonnen Rohöl ausgelegt. Sie wurde 1980 in Betrieb genommen und versorgte als einziges Werk für Ölverarbeitung das Baltikum und weitere Gebiete mit Benzin und Heizöl. Beim Zerfall der Sowjetunion übernahm nach 1990 das jetzt unabhängige Litauen die Anlage. Sie wurde1998 mit der nur bei ruhigem Wetter benutzbaren Verladestation Butinge in der Ostsee zusammengelegt.
Die Firma Mazeikiu Nafta war nun Litauens grösstes Unternehmen, dessen Produktion rund ein Zehntel des litauischen Bruttosozialproduktes ausmacht und über 4000 Personen beschäftigt. Als Russland zu Beginn der 90er Jahre die Ölzufuhr sperrte, erfuhr Litauen, dass die Unabhängigkeit bei der Energieversorgung eine Kehrseite hat. Da man Know-how und Investitionen brauchte, suchte Vilnius Rat bei der Weltbank. Das von den USA dominierte Institut in Washington riet zu Privatisierung und der Suche nach einem „strategischen“ Partner.
Retter aus Amerika
In Osteuropa bedeutet „strategischer“ Partner seit der Wende von 1989, dass alle Investoren willkommen sind ausser den Russen. Der amerikanische Botschafter in Vilnius und auch Washington signalisierten aber bald, dass im Ölgeschäft eigentlich nur Amerikaner eine solche Rolle übernehmen können. Mazeikiu Nafta verhandelte mit der mittelgrossen amerikanischen Ölfirma Williams International, die 1999 vorerst 33 Prozent der Anteile und die Betriebsleitung übernahm. Der amerikanische Botschafter in Vilnius warb so energisch für die amerikanische Firma, dass das litauische Aussenministerium ihn zur Zurückhaltung aufforderte. Er wurde später mit einem führenden Posten bei Williams International belohnt. Aber auch George W. Bush als Präsident und sein Aussenminister Colin Powell machten Druck. Sie betonten die Bedeutung des Vertrags für die amerikanischen Beziehungen zu Litauen und erinnerten Vilnius an die litauische Bewerbung um Aufnahme in die NATO.
Das war keine Nebensache. Die NATO-Mitgliedschaft stand damals für die Baltischen Staaten und wohl auch für die anderen Länder Osteuropas im Zentrum der Westorientierung. Man hatte vor allem die Beistandsklausel in Artikel V vor Augen, die den Angriff auf ein Mitglied der NATO als Angriff auf alle Mitglieder einstuft. Dies machte die USA zum Bollwerk gegen russische Übergriffe. EU-Beitritt und sonstige Interessen traten zurück hinter das Sicherheitsanliegen.
Mazeikiu Nafta wurde durch seine Partnerschaft mit Williams International von Anfang an zu einem Zankapfel zwischen russischen und amerikanischen Interessen. Die Russen waren frustriert, weil man ihre Ölfirmen als Käufer der Raffinerie ausgeschlossen hatte. Sie verweigerten daher einen Liefervertrag für Rohöl und rächten sich durch stockende Lieferungen.
Die unsichere Zulieferung verhinderte die volle Auslastung der Raffinerie und war mitverantwortlich für die jetzt bei Mazeikiu Nafta anfallenden Betriebsverluste. Diese wiederum führten zu ständigem Gerangel zwischen Litauen und Williams International über die Aufteilung der Defizite und den Einschuss von Staatsgeldern für die Erneuerung der veralteten Anlagen. In Vilnius beklagte man sich über die schlechte Führung der Raffinerie, während die Amerikaner verärgert waren über die ausbleibende Profitabilität. Litauens Regierung und das amerikanische Management bemühten sich bei den russischen Ölfirmen immer wieder um einen langfristigen Liefervertrag. Vilnius offerierte der damals grössten russischen Ölfirma Lukoil ein Paket der beim Staat verbliebenen Anteile an Mazeikiu Nafta gegen einen Liefervertrag. Aber Lukoil verweigerte eine Zusammenarbeit unter amerikanischer Betriebsleitung.
Wirbel um das Präsidentenamt
Da der Vertrag mit Williams International in Litauen unpopulär war, bot sich 1999 auch eine Chance für den innenpolitischen Coup von Rolandas Paksas. Der Kunstflieger war auch ein risikofreudiger Politiker. Seine Kritik am Vertrag mit der amerikanischen Ölfirma führte zum Sturz des konservativen Regierungschefs. Paksas wurde Nachfolger und trat nach 5 Monaten demonstrativ zurück mit der Erklärung, dass er den Vertrag mit Williams International nicht unterschreibe. Der Coup blieb für den Vertrag ohne Folgen. Er brachte Paksas und seiner Partei aber soviel Beachtung, dass der populistische Querschläger bei der Präsidentenwahl von 2003 den amtierenden Valdas Adamkus, einen Amerika-Litauer, ablöste. Die Raffinerie war ein Wahlkampfthema. Paksas thematisierte die Belastung der litauischen Steuerzahler und kritisierte die amerikanische Unternehmensführung. Seine Gegner bezeichneten den Kunstflieger als Sklaven der russischen Ölfirma Lukoil. Paksas habe im Wahlkampf russische Gelder erhalten und dafür einem russischen Geschäftsmann mit Beziehungen zu kriminellen Organisationen die Staatsbürgerschaft verschafft.
Im Frühling 2004 wurde Paksas kurz vor der Aufnahme Litauens in EU und NATO über ein parlamentarisches Verfahren (Impeachment) abgesetzt. Die präsidiale Krise führte zur Absage ausländischer Staatsbesuche und zur diplomatischen Isolierung Litauens. Der abgewählte ehemalige amerikanische Geschäftsmann Adamkus wurde wieder Präsident. Eine Untersuchung gegen Paksas wegen ungesetzlicher Verleihung einer Staatsbürgerschaft wurde noch im gleichen Jahr eingestellt. Der von Paksas angerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg erklärte im Herbst 2010, er sei für das Impeachment nicht zuständig. Er bezeichnete aber die permanente Ausschliessung des abgesetzten Präsidenten von Amtsstellen als ungerechtfertigt. Eine Art Schlussstrich zur Ölkontroverse bildete der am 31. Mai 2004 publizierte parlamentarische Bericht, wonach die Privatisierung von Mazeikiu Nafta als eine der unvorteilhaftesten Übergaben im Energiesektor Osteuropas eingestuft wird.
Schwarze Zahlen unter russischer Firma
Der „strategischen“ Partnerschaft nützten diese Kämpfe nicht. Und die Ölzufuhr wurde auch nicht besser. Ein unerwarteter Anstoss kam aber aus Amerika, wo 2001 der Enron-Skandal die Energiewirtschaft erschütterte. Der grosse Energiekonzern hatte über Jahre seine Partner durch Bilanzfälschungen getäuscht. Sein Zusammenbruch schädigte auch Williams International und beschleunigte den Abbruch des litauischen Abenteuers. 2002 erzielten die litauische Regierung und Williams International eine Lösung mit der russischen Ölfirma Jukos. Diese übernahm nun sowohl die amerikanischen Anteile als auch einen Teil der noch von Litauen gehaltenen Aktien, was ihr eine Mehrheitsbeteiligung und die Firmenleitung verschaffte. Die litauische Regierung stimmte der Lösung zu, weil Jukos als Gegenleistung einen zehnjährigen Liefervertrag für Rohöl unterzeichnete.
Unter der Führung von Jukos erlebte die Raffinerie ihre beste Phase. Hatte sie 2002 noch ein Defizit von gut 100 Millionen Euro eingefahren, so meldete sie 2003 mit 66,7 Millionen Euro ihren ersten Gewinn seit der Privatisierung. Jukos war inzwischen zum grössten russischen Ölproduzenten aufgestiegen und steigerte sowohl die Verarbeitung als auch den Export über den zum Unternehmen Mazeikiu Nafta gehörenden Ölhafen Butinge. Aber Chef und dominierender Teilhaber von Jukos war Michail Chodorkowski. Er war einer der reichsten Männer in Russland und wurde für Präsident Putin unheimlich, weil er sich auch in der Politik engagierte und oppositionelle Gruppen finanzierte. Er wurde 2003 in Novosibirsk verhaftet und 2005 wegen Unterschlagung und Steuerhinterziehung ein erstes Mal verurteilt. Moskau enteignete Jukos, was aber im Falle von Mazeikiu Nafta misslang, weil die Guthaben in den Westen verschoben und dort vorläufig eingefroren wurden.
Polen als nächster Retter
Polen wurde damals regiert von Lech Kaczynski als Präsident und seinem Zwillingsbruder Jaroslaw Kaczynski als Regierungschef. Das Eingreifen der grössten und vom Staat beherrschten polnischen Ölfirma wirkt wie eine Neuauflage der amerikanischen Rettungsaktion. Die Motive der polnischen Führung sind nicht ganz eindeutig. Die konservativen Zwillingsbrüder beanspruchten eine Art Führungsrolle im Baltikum und präsentierten sich als Vorkämpfer gegen ein Russland, das die Energieversorgung bedrohe. Es gab Gerüchte, dass Polen in der Energiebranche über spezielle Kontakte zu Moskau verfüge. Zugleich forderte der dann im Frühling 2010 bei einem Flugzeugunglück umgekommene Präsident eine aggressive westliche Energiepolitik und schlug eine NATO für Öl vor. In Litauen trat die polnische Regierung nach dem Vorgehen Putins gegen Jukos demonstrativ als neuer „strategischer“ Partner auf. Vilnius musste – auch eine Parallele zum amerikanischen Engagement von 1999 – diesmal den aggressiven polnischen Botschafter um Zurückhaltung ersuchen.
Die mehrheitlich dem Staat gehörende polnische Ölfirma PKN Orlen übernahm die Raffinerie Mazeikiu Nafta jetzt zu 100 Prozent und Litauen verlor mit den restlichen Anteilen jedes Mitspracherecht. Finanziell war das Angebot aus Polen grosszügig. Aber der Neustart war wiederum vom Ärger Moskaus überschattet, weil der Westen die Enteignung von Jukos durchkreuzt hatte und die russischen Ölfirmen auch diesmal von der Übernahme ausgeschlossen wurden. Das Abkommen in Vilnius war kaum unterzeichnet, als in der Raffinerie ein Grossbrand erheblichen Schaden anrichtete. Zudem meldete Russland einen Defekt in der Druschba-Pipeline, der die Lieferung von Rohöl stoppte. PKN Orlen konnte die Raffinerie nur betreiben, indem Rohöl aus dem Westen importiert und vom Hafen per Eisenbahn in die Raffinerie gebracht wurde. Nach der Verarbeitung wurden die Produkte wieder per Eisenbahn und Schiff exportiert. Mazeikiu Nafta hiess nun Orlen Lietuva (Litauische Tochter von Orlen). Da der Betrieb nicht profitabel war, begann auch sogleich das Gerangel zwischen Litauen und den polnischen Besitzern über die Deckung der Defizite und die Finanzierung der Investitionen.
Die polnische Staatsfirma übte dabei keine Zurückhaltung, sodass sich bald auch das seit der Wende von 1990 relativ gute Verhältnis zwischen Polen und Litauen wieder verschlechterte. Hier muss man den Unterschied zur Situation in Estland und Lettland erwähnen. Diese beiden Kleinstaaten liegen zwischen Russland und der Ostsee und fürchten russische Übergriffe, weil sie russischsprachige Minoritäten von knapp 30 Prozent der Bevölkerung aufweisen. Litauen lebt dagegen zwischen zwei grossen Nachbarn. Seine Hauptstadt wurde 1920 samt einem Teil des Landes von Polen besetzt. Der territoriale Besitzstand wurde erst im Zweiten Weltkrieg beim Einmarsch der Roten Armee wieder hergestellt. Die Russen bilden in Litauen eine loyale Minderheit von 6 Prozent. Sie sind besser integriert als die etwas über 7 Prozent ausmachende Minorität der Polen, die sich weiterhin polnisch gebärdet und von Warschau aggressiv protegiert wird.
„Wenn der Preis stimmt, verkaufen wir.“
In Polen änderte sich die Situation mit dem Wahlsieg des liberalen Donald Tusk. Der neue Ministerpräsident betreibt jetzt Realpolitik und die wirtschaftlichen Interessen haben Vortritt. Die vom Staat dominierte PKN Orlen engagierte im August 2010 die japanische Investitionsfirma Nomura Holdings für die Beratung über einen teilweisen oder totalen Verkauf der Raffinerie in Litauen. Der neue Chef von PKN Orlen bezeichnete den vor seinem Amtsantritt erfolgten Kauf in einer Pressekonferenz als „krasse Fehlinvestition, die für Polen keinen Sinn macht.“ Man werde mit russischen Ölgesellschaften verhandeln und „wenn der Preis stimmt, verkaufen wir.“ Die Entscheidung der polnischen Ölfirma soll Ende Februar 2011 bekannt gegeben werden. Nach Nomura sind sieben mehrheitlich russische Ölfirmen am Kauf interessiert.
Die ökonomischen Gründe sind einleuchtend. PKN Orlen bezahlte 2006 für die hundertprozentige Übernahme der Raffinerie 2,7 Milliarden Dollar und investierte zwischen 2006 und 2008 weitere 750 Millionen Dollar, um das Unternehmen profitabel zu machen. Die Kommentare in Warschau und die Stellungnahme des Firmenchefs enthalten aber auch Vorwürfe an Litauen. Man habe 2008 ohne Erfolg den gemeinsamen Bau einer 96 km langen Pipeline zum litauischen Ölhafen Klaipeda (deutsch Memel) vorgeschlagen, um die Transportkosten für Öl zu senken. Man habe Vilnius zudem um tiefere Transportpreise bei der Bahn gebeten und um schnelle Restaurierung der 19 Kilometer langen Eisenbahnstrecke für den Öltransport nach Lettland. Man fand in Vilnius aber kein Gehör. Für die Geleise nach Lettland brauche man Finanzhilfe der EU und die Erneuerung sei erst 2012 möglich.
Die von Polen vorgeschlagene Pipeline nach Klaipeda empfindet Litauen als Übergriff, weil damit der Verkauf des Ölhafen in der litauischen Hafenstadt an der Ostsee verbunden wurde. Dieser hat, wie „The Baltic Times“ (Ausgabe 11. bis 24. November 2010) berichtet, strategische Bedeutung und wurde als Absicherung gegen einen russischen Ölboykott errichtet. Die Zusammenlegung mit Orlen Lietuva wäre für die Raffinerie attraktiv und würde deren Verkaufpreis erhöhen. Aber beim jetzt debattierten Verkauf an eine russische Ölfirma hätte Litauen künftig keine Alternative mehr. Die litauische Regierung fühlt sich durch die ultimativen Forderungen der polnischen Staatsfirma so sehr bedrängt, dass der Verkauf der Raffinerie an eine russische Gesellschaft weniger bedrohlich aussieht. Zudem könnte die sichere Belieferung mit Rohöl das grösste Unternehmen Litauens endlich rentabel machen. .