Alle Kantonsregierungen forderten am Freitag den Bundesrat auf, mit der Europäischen Union nun endlich Verhandlungen aufzunehmen – am gleichen Tag aber forderte einer der Mitbegründer von «Kompass Europa», Urs Wietlisbach, in einem NZZ-Interview eine Pause bei jeglichen Gesprächen mit der EU – weil das Endziel der Europäischen Union eine grundsätzliche dynamische Rechtsübernahme sei – und das sei «ein Angriff auf die direkte Demokratie, auf den Föderalismus, auf die Stärken der Schweiz.»
Weiter hiess es: Der Bundesrat sollte der EU eine mögliche «Hiobsbotschaft» ankündigen, nämlich dass jegliche schweizerische Konzession hinsichtlich einer dynamischer Rechtsübernahme bei einer allfälligen Volksabstimmung mit einem Nein enden würde.
Täte er das, würde er Staatssekretärin Livia Leu für die nächste (die neunte …) Sondierung in Brüssel mit einer solchen Warnung mandatieren, könnte er sicher sein, dass er bei der EU die letzte noch erkennbare Bereitschaft zu weiteren Gesprächen mit der Schweiz zu Grabe tragen würde. Maros Sefcovic, Vizepräsident der EU, erklärte ja erst am 16. März, bei seinem Besuch in Fribourg und in Bern, die Europäische Union habe «einen signifikanten Schritt auf die Schweiz zu gemacht, indem sie den Paketansatz akzeptiert hat». Die Schweiz profitiere stark von ihrer Integration in den grössten Binnenmarkt der Welt, und das sei eben nicht nur mit Rechten, sondern auch mit Pflichten verbunden. Und nach dem Scheitern des Rahmenvertrags könne man sich keinen zweiten Misserfolg leisten, sagte er. Er hoffe, dass bis zum Sommer 2024 die Verhandlungen abgeschlossen werden könnten.
Nur schon wer die gegenwärtigen Statements bei der Prominenz der Parteien, den Gewerkschaften und Bremser-Institutionen wie «Kompass Europa» überfliegt, muss zur Schlussfolgerung gelangen, dass dieser Zeitplan nie und nimmer eingehalten wird. Die Debatte um das Thema Schweiz-EU wird von mehreren Ebenen überlagert: Angebliche Gefahr für die direkte Demokratie, Gefährdung der Autonomie hinsichtlich des Lohnschutzes und der Zuwanderung, Bedrohung unserer Eigenständigkeit durch den Gerichtshof der Europäischen Union respektive durch «fremde Richter».
Kein Weg führt am EuGH vorbei
Für jedes dieser Themen lassen sich in der Schweiz bremsende Gruppierungen mobilisieren, für jedes profiliert sich eine nicht unbeträchtliche Minderheit. Ja, klar, für den Lohnschutz respektive das Beharren auf der Einhaltung von Vorschriften und Regeln gegen all jene (mehrheitlich kleinen oder mittelgrossen) Firmen aus einem Nachbarland, vor allem aus Deutschland, die Aufträge aus der Schweiz erhalten, bilden die Gewerkschaften einen Schutzwall. Es handelt sich da, konkret, um jährlich etwas mehr als 8000 Aufträge aus Baden-Württemberg und Bayern, nicht überwältigend viel, aber auch keine Quantité négligeable. Beim Lohnschutz, das hat die EU signalisiert, könne sich Brüssel immerhin einen Kompromiss vorstellen. Nur – reicht den Gewerkschaften ein Kompromiss? Bisher gingen sie aufs Ganze.
Dass für ein künftiges Abkommen kein Weg am EuGH vorbeiführen wird, hat sich schon bei den Verhandlungen Brüssels mit der britischen Regierung um das Nordirland-Abkommen gezeigt. Die Briten schluckten die Kröte – in der Schweiz aber lautet der Kampfruf noch immer weit verbreitet «EuGH gleich fremde Richter», also undenkbar, unakzeptabel. Christa Tobler, Professorin für Europarecht an den Europainstituten der Universität Basel und der Universität Leiden, schrieb in einem Beitrag für die NZZ: «Der bilaterale Weg bringt der Schweiz bekanntlich viele Vorteile. Wer an ihm festhalten will, sollte zur Kenntnis nehmen, dass in der heutigen Situation am EuGH in der einen oder anderen Form kein Weg vorbeiführt.» Und auf diesem Portal, Journal 21, argumentierte Daniel Woker, Diplomat mit langjähriger Erfahrung: «Wer im Binnenmarkt tätig ist und von diesem profitiert, unterliegt naturgemäss der Rechtsprechung des EuGH. Seine Richter sind also keine fremden, sondern auch unsere schweizerischen Richter.»
Im Streit zwischen Partikular-Interessen zerpflückt
In die gleiche Richtung argumentierten nun die schweizerischen Kantonsregierungen. Was die dynamische Rechtsübernahme betrifft, führten sie in ihrem Schreiben an den Bundesrat aus: «Wir sind bereit, dieser zuzustimmen, sofern sie nicht automatisch ist und auf sektorielle Marktzugangsabkommen beschränkt bleibt.» Die Kantone sind auch bereit, eine Lösung zu akzeptieren, bei der der EuGH die Aufgabe wahrnimmt, eine kohärente Interpretation von EU-Recht sicherzustellen.
Man muss nicht zur Zunft der Schwarzseher gehören um die Voraussage zu wagen: Die Appelle zu einer realistischen Sichtweise im schweizerischen EU-Dossier werden bald wieder im Streit zwischen Partikular-Interessen zerpflückt werden. Das Schlagwort «fremde Richter» ist für breite Interessengruppen rechts von der Mitte zum Mantra geworden, Vernunftargumente von Persönlichkeiten wie Christa Tobler hin oder her. Institutionen wie «Kompass Europa» werden sich wieder stark in der Öffentlichkeit profilieren, sobald eine Debatte zur dynamischen Rechtsübernahme beginnt. Und ob die Gewerkschaften beim Thema Lohnschutz zu irgendwelchen Kompromissen bereit sind, steht in den Sternen.
Bundesrat übernimmt konsequent keine Verantwortung
All diesen Kräften, Gruppen, Institutionen leihen die Mitglieder des Bundesrats, das hat die Erfahrung gezeigt, bereitwillig ihr Ohr – oder anders ausgedrückt: Unsere Landesregierung hat es in den letzten Jahren (fast seit dem Beginn der siebenjährigen Verhandlungen um ein Rahmenabkommen) verstanden, konsequent keine eigene Verantwortung zu übernehmen, sich nie zu exponieren. Sie tut nicht viel mehr, als die tüchtige Staatssekretärin, Livia Leu, regelmässig zu Sondierungen nach Brüssel zu schicken. Das nächste Treffen bei der EU ist für April geplant. Es wird dann das neunte sein. Wird sie auch danach wieder äussern, die Zeit für Verhandlungen sei noch nicht reif?
Der Zeitrahmen wird immer knapper. In der Schweiz stehen Wahlen bevor, was bedeutet, dass sich immer weniger Politikerinnen und Politiker mit Positionsbezügen aus der Deckung wagen werden. Die EU-Kommission in ihrer jetzigen Zusammensetzung ist noch bis 2024 im Amt. EU-Vizepräsident Sefcovic wies, wie erwähnt, bei seinem Besuch in der Schweiz darauf hin. Bis eine neue Kommission in der Amtsführung eine gewisse Routine hat, dauert es mindestens einige Monate, wahrscheinlich eher länger. Und wer sich dann in Brüssel ins ungeliebte Schweiz-Dossier einarbeiten möchte, ist nicht vorhersehbar.
Das alles kommt, klar und leider, Forderungen wie der von einem Mitglied von «Kompass Europa» geäusserten entgegen: Pause. Nur besteht das Risiko, dass die Pause zum Herzstillstand führen kann.