Nizons Romane haben sprachlich etwas Perfektes – niemand könnte es besser machen. Der Reiz seiner Journale, die er seit 1961 schreibt, liegt gerade darin, dass sie nicht perfekt sind. Der Autor notiert über Tag und Jahr, was ihm notierenswert erscheint, wählt dann mit Hilfe eines Herausgebers Texte aus, lässt sie unter dem jeweiligen Datum paradieren und gewährt so dem Leser Einblick in seinen Kopf, sein Herz, sein Leben, seine Werkstatt. Ein Teil dieser Texte gleicht rohen Diamanten, gefunden, sortiert, manchmal noch verbunden mit dem Schutt, dem sie entstammen. Anderes ist geschliffen und geformt, hat all jene Verarbeitungsstadienstadien durchlaufen, denen dieser Autor sein Sprachmaterial gemeinhin unterwirft.
Worüber schreibt er, wie schreibt er? Eines der vielen sprechenden Bilder hierfür liefert uns Nizon gleich auf der ersten Seite seines Journals, wenn er vom „handschellengeeinte(n) Zusammengehen von Leben und Schreiben in meinem Fall „ schreibt und fortfährt: „in dem Sinne, dass das Leben ganz auf das Schreiben ausgerichtet und beinah wie ein Hund abgerichtet ist und das Schreiben ganz und vielleicht fast nahtlos aus dem Leben aufsteigt, nämlich aus der ständigen und inständigen Verschriftlichung desselben…“ Da bekommen wir auf ein paar Zeilen Essentielles mitgeteilt, das diesen Autor treffend charakterisiert. Die ausgesuchten und sinnfälligen Bilder wären da zu nennen, die Handschellen, die das Leben ans Schreiben fesseln und umgekehrt, ein grotesk anmutender, makaber und komisch imprägnierter Vergleich, der ins Ohnmächtige und Leidvolle zielt; das Schreiben unter solchen Prämissen kann ein qualvoller Prozess sein – das Leben auch. Umgekehrt bedeutet es für den Autor reines Glück, wenn die „Verschriftlichung“ des Lebens mitunter gelingt, wenn das Schreiben „fast nahtlos aus dem Leben aufsteigt“.
Ich-Fiktionen
Solche Bekenntnisse und Dispositionen liessen den voreiligen und falschen Schluss zu, dass es sich bei diesem Autor um einen Egomanen handele, damit beschäftigt, seine Biografie zu literarisieren. Die Wahrheit ist komplexer. Egomanie, eine gehörige Dosis Narzissmus, Eitelkeit sind zwar Nizon – wie der grossen Mehrzahl seiner Kollegen – nicht fremd und er lässt solchen Eigenschaften gelegentlich freien Lauf in den Journalen, ist sich ihrer freilich durchaus bewusst und weiss sie deshalb bissig, selbstironisch zu kontern. Die seltsamen Helden seiner Romane indessen sind je anders gemischte Ich-Fiktionen, Erfindungen der aus dem Leben aufsteigenden Sprache, vollendete Kunstprodukte, die nicht mit der real existierenden Person des Erzählers zu verwechseln sind.
Im Journal kann man oft die kleinere oder grössere Distanz förmlich spüren, die das Geschriebene vom Ge- oder Erlebten trennt. Was da mit Handschellen aneinander gefesselt miteinander geht, ist in stetiger Bewegung und Verwandlung begriffen. Das schreibende Ich ist mal nahe bei sich, mal schaut es sich gleichsam von aussen an, mal sucht oder vergisst es sich im Traum; und das Leben, an das es gefesselt ist, durchläuft in den gestochen scharfen Beschreibungen Nizons alle Sphären des Wirklichen, des Unwirklichen, des körperlich Gefühlten wie des poetisch Imaginierten. Nizon hat seinem Journal den Titel „Urkundenfälschung“ gegeben. Das Wort taucht im Buch nirgends auf. Ob die Fiktionalisierung des erzählenden Ichs, dessen Metamorphosen damit gemeint sind? Eine (Ver)fälschung insofern, als sich unter dem Mantel des erzählenden Ichs in Wahrheit andere, fremde, erfundene Figuren verbergen? Und würden da nicht die ebenfalls dem Justizbereich entlehnten Handschellen gut dazu passen? Die miteinander verklammern, was sich ständig in einer Spannung befindet?
Stadt und Alltag
Die Introspektionen, die Versuche übers Leben und Schreiben loten den innersten Bereich des Journals aus; dazu gehören auch die luziden Passagen, in denen Nizon die Arbeit am Roman „Das Fell der Forelle“ interpretiert und kommentiert. Aber das Buch kennt auch alltägliche, schmerzliche Teile – die Geschichte der Scheidung von der dritten Frau, Krankheit, das Bewusstsein des Alterns, Todesängste, das sich Einrichten in einer neuen Wohnung. Gnadenlos wird in offenen Wunden gestochert, Lebensumstände, Seelenzustände mit brutaler Offenheit dokumentiert.
In wieder andere Dimensionen führen die Stadtbeschreibungen und Reiseberichte. Immer aufs neue schafft es der Wahlpariser Nizon seiner Stadt Reize, Wörter, Bilder abzugewinnen, die den Leser seine Begeisterung verstehen und teilen lässt. Gleiche Wirkung erzielt er mit der Beschreibung Roms, der Stadt, in der er als junger Mann ein entscheidendes Jahr verbracht hat und die er in unregelmässigen Abständen besucht. Nizon, ein Augenmensch, ein exzellenter Beobachter, deponiert solche Ortskizzen wie nebenbei im Journal; das nimmt sich bei flüchtigem Lesen wie ein bisschen Dekor, ein wenig Atmosphäre aus – und erweist sich bei näherem Hinschauen als kunstvolle Juweliersarbeit.
Grösse und Erfolg
Paul Nizon gehört seit langem zu den grossen deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Das wird in Deutschland und vor allem in seiner Wahlheimat Frankreich gebührend wahrgenommen, weniger erstaunlicherweise in der deutschen Schweiz, die ein eher schwieriges Verhältnis zum Exilschweizer pflegt, was durchaus auf Gegenseitigkeit beruht. Diese Stellung bringt es mit sich, dass der Autor regelmässig enthusiastisch rezensiert, lobgepriesen, ausgezeichnet, mit Preisen bedacht, zu Lesetourneen eingeladen wird, worüber er im Journal akribisch und mit spürbarem Wohlgefallen berichtet. Was ihn quält, was ihm keine Ruhe lässt, was er manchmal nicht verstehen kann oder will und manchmal mit bitterer Ironie kommentiert ist die Tatsache, dass er nicht zu den auflagestarken Autoren gehört, dass ihm der reichmachende, der zählbare, der Bestsellererfolg – wenn es denn einer sein soll – fehlt. Was verständlich ist. Nizons Romane versagen sich nahezu allem, was es heute braucht, um einen Bestseller zu landen: es werden keine Kriminalgeschichten erzählt, keine Haupt- und Staatsaktionen verhandelt (es werden überhaupt keine Geschichten im Wortsinn erzählt), es werden die voyeuristischen Instinkte des Lesers nicht bedient, also keine Schlüssellochblicke, kein Körper- und Seelenstriptease, überhaupt wenig Intimitäten.
Dies ist ein Autor, der über eine betörende, unverwechselbare Sprachmusik verfügt – in den Romanen. Das Journal liefert, wenn man so will, die Begleitmusik zur Sprachmusik, lässt uns beim Entstehen zuschauen, so dass man gelegentlich sieht, wie die „Verschriftlichung“ des Lebens vonstatten geht.
Paul Nizon: Urkundenfälschung, Journal 2000 – 2010, Suhrkamp Verlag 2012