Noch anfangs Mai lobte Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping protestierende Studenten über allen Klee. Kein Wunder, denn es waren aus heutiger, parteilicher Sicht die politisch korrekten Aufwiegler. Am 4. Mai 1919 nämlich marschierten Studenten der Eliteuniversität Beida gefolgt von Studenten anderer Universitäten laut protestierend zum Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen im Zentrum Pekings, im Herzen Chinas. Sie waren empört über die Sieger des Ersten Weltkriegs, die an der Friedenskonferenz von Versailles Chinas deutsche Kolonien den Japanern übertragen hatten. Der Protest richtete sich auch gegen die eigene Regierung, die nicht fähig war, an der Friedenskonferenz die Interessen Chinas durchzusetzen.
Befreiung vom kolonialen Joch
Der 4. Mai 1919 steht im Reich der Mitte seither für die Befreiung vom kolonialen Joch, für eine eigene politische Ordnung. Chinesische Intellektuelle forderten damals «Mister Democracy» und «Mister Science» und die Verdrängung von «Mister Konfuzius». Erstmals wuchs damals sachte ein Bewusstsein für eine chinesische Nation. Für die Kommunistische Partei war es der erste Schritt auf dem Weg zum modernen China. Wenig später gründete ein Dutzend Chinesen, darunter Mao Dsedong, 1921 in Shanghai die Kommunistische Partei Chinas.
Die Studentenproteste vom 4. Mai 1919 sind bis heute ein Ereignis von grosser Strahlkraft geblieben. Auch und gerade für die Kommunistische Partei. In einem Jahr mit zahlreichen, für China wichtigen Jahrestagen, darunter positiven (40 Jahre Reform, 70 Jahre Volksrepublik – aber auch negativen (50 Jahre Tibet-Aufruhr, 30 Jahre Tiananmen-Zwischenfall) ist der Mai-1919-Jahrestag deshalb von besonderer Bedeutung. Parteichef Xi liess es sich deshalb an einer Feierstunde in der Grossen Halle des Volkes beim Tiananmenplatz nicht nehmen, die damaligen Studenten-Demonstrationen als «patriotischen Protest» zu feiern. Der damalige Geist, so Xi, sei die «Liebe zum Mutterland» gewesen, vergleichbar mit dem heutigen «Gehorsam gegenüber der Partei».
Mehr Transparenz
Die hundert Jahre alte antiimperialistische Botschaft passt nahtlos in Parteichef Xis «Chinesischen Traum» von der «Erneuerung der Nation». Weniger gut ins aktuelle parteiliche Bild passen hingegen die Demonstrationen von Beida-Studenten, die sich vor dreissig Jahren ereignet haben und – weil der damalige Sowjet-Parteichef Gorbatschow zum Staatsbesuch der sowjetisch-chinesischen Versöhnung in Peking weilte – international für Riesenschlagzeilen sorgten. Wegen der damaligen prekären Wirtschaftslage – Überhitzung, hohe Inflation im zehnten Jahr der chinesischen Wirtschaftsreform – schlossen sich bald Arbeiter, Angestellte, Regierungs- und Parteibeamte den Protesten an. Die Forderungen waren: mehr Transparenz der Regierenden und Kampf gegen Korruption.
Ausgelöst wurden die Demonstrationen durch den Tod des ehemaligen, beim Volk äusserst beliebten, abgehalfterten Parteichefs Hu Yaobang. Innerhalb der Parteispitze kam es zu Auseinandersetzungen, wie der Protest auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen eingeordnet werden sollte. Hunderttausende hielten den Tiananmenplatz besetzt. Das Kriegsrecht wurde ausgerufen. Die Partei verlor das Gesicht, als der prominente Staatsgast Gorbatschow durch die Hintertüre zum Staatsempfang in die Grosse Halle des Volkes geleitet werden musste.
Ein zweiter Gesichtsverlust der Partei kam mit der Live-Übertragung eines Gesprächs zwischen den Protestführern und Ministerpräsident Li Peng. Li wurde von den jungen Demonstranten abgekanzelt, ganz entgegen dem tief im kollektiven Bewusstsein verankerten konfuzianischen Respektverhältnis von Sohn zu Vater.
«Konterrevolutionärer Aufstand»
Im Politbüro hatten Studenten und Arbeiter nur wenig Unterstützung. Parteichef Zhao Ziyang allerdings sympathisierte mit den Demonstranten, begab sich sogar selbst auf den Platz. Wenig später entschied der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping gegen Zhao und liess die Armee vorrücken. Das gewaltsame Eingreifen in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 forderte rund tausend Todesopfer. Zhao Ziyang wurde bis zu seinem Tod unter Hausarrest gestellt. Man warf ihm «Parteispaltung» vor. Tiananmen 1989 wurde als «Konterrevolutionärer Aufstand» bezeichnet. Diese Einschätzung ist bis auf den heutigen Tag geblieben.
Die Partei hat jeweils vor dem Tiananmen-Jahrestag alles vorgekehrt, damit alles ruhig bleibt. Doch zum «runden» 30. Jahrestag ist die Nervosität wohl noch gestiegen. Parteichef Xi liess es sich deshalb nicht nehmen, an einer zweitägigen Konferenz zur Öffentlichen Sicherheit in Peking der Polizei zu danken und sie weiterhin zu noch «grösserer Loyalität gegenüber der KP» aufzufordern. Den Bemühungen zur Erhaltung der sozialen Stabilität, so Xi, sei alles unterzuordnen.
«Soziale Stabilität» ist nach dem Tiananmen-Zwischenfall von 1989 denn auch das Stichwort, das in China stets nachdrücklich wiederholt wird. Nur so könnten Wirtschaftsreformen erfolgreich durchgeführt werden. Deng Xiaoping hatte vor dreissig Jahren nämlich den Einsatz der Volksbefreiungsarmee angeordnet mit dem ausdrücklichen Hinweis, ein Chaos wie zur Zeit der Grossen Proletarischen Kulutrrevolution (1966-76) verhindern zu wollen.
Deng wurde damals als Kapitalist Nummer 2 hinter Kapitalist Nummer 1, Staatspräsident Liu Shaoqi, verdammt und als Arbeiter in die Provinz verbannt. Auch der Vater des derzeitigen Parteichefs Xi Jinping, Xi Zhongxun, wurde verurteilt und sein Sohn wurde «herunter aufs Land» geschickt, um von den Bauernmassen zu lernen. Xi Jinping tat dies jahrelang sozusagen im Schweinekoben.
Machtmonopol verteidigen
Die historische Aufarbeitung der Kulturrevolution ist im Zusammenhang mit Tiananmen 1989 interessant. Deng Xiaoping zitierte Mao, um die Abkehr von Maos kulturrevolutionären Dogmen hin zu Marktwirtschaft und Öffnung nach aussen zu begründen: «Die Wahrheit in den Tatsachen suchen». Mao, so Deng, habe auch Fehler gemacht, und Fehler seien unvermeidbar. Doch Maos Verdienste, so das Fazit 1981 der Partei, hätten seine Fehler bei weitem übertroffen, nämlich in einem Verhältnis von siebzig zu dreissig. Deng wollte so das Machtmonopol der Partei verteidigen.
Im Gegensatz zum 4. Mai 1919 ist so also heute der 3./4. Juni 1989 absolut tabu. Der Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens wird mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln der Technologie nahtlos überwacht. Für die junge Generation ist Tiananmen 1989, wenn überhaupt, alte Geschichte. Die meisten der bis zu vierzig Jahre alten Chinesinnen und Chinesen wissen kaum mehr, was auf Tiananmen 1989 überhaupt geschehen ist. Die meisten Eltern und Grosseltern sprechen mit ihren Kindern und Enkeln nicht darüber. Guo Yuhua, Soziologin an der Eliteuniversität Tsinghau, sagt, dass viele junge Leute gegenüber Politik indifferent und mehr an Karriere, Fortkommen und Geld interessiert seien.
Deng Xiaoping hat im Bezug auf Mao auch immer wieder gesagt, dass erst nach langer Zeit die Geschichte endgültig entscheiden werde. Dasselbe hat er wohl bezüglich Tiananmen geglaubt. Dass das Verdikt über Tiananmen 1989 von «konterrevolutionärem Aufruhr» bald in einen «partriotischen Protest» verändert wird, ist kaum anzunehmen. Die Legitimität der allmächtigen KP Chinas steht auf dem Spiel.
Sich der Geschichte stellen
Zhao Ziyang freilich hoffte immer, dass das Urteil korrigiert werde. In einem Brief an die Parteileitung schrieb er 1997 aus dem Hausarrest, dass das Verdikt «früher oder später» korrigiert werden müsse. «Das Volk», so Zhao, «wird nicht vergessen». Es sei besser, heisst es weiter im Brief an die Parteileitung, «wir lösen die Frage, wenn das Land stabil ist und die Menschen ruhig und rational». Das Verdikt zu korrigieren, so schliesst Zhao, «wird günstige Voraussetzungen für weitere Reformen und die Öffnung nach aussen schaffen».
Wie wir heute wissen, ist Zhaos Bitte bei der Partei auf taube Ohren gestossen. Bis auf den heutigen Tag. Zhaos Name ist wie Tiananmen 1989 tabu. Wie vor dreissig Jahren glaubt die Partei auch heute noch, den korrekten Entscheid getroffen und Chaos verhindert zu haben. Die Partei fürchtet wohl, dass eine Diskussion in offenen Aufruhr münden und die Legitimität der Partei ernsthaft in Frage stellen werde.
Die Vergangenheit lehrt aber auch, dass sich jedes Land früher oder später der eigenen Geschichte stellen muss.