Manuela ist 34 Jahre alt. Sie hat zwei Kinder, einen arbeitslosen Mann und lebt in einem Städtchen nördlich von Rom. Die Familie gehört zu den 24,5 Prozent Italiener und Italienerinnen, die arm sind. Diese Zahl nennt jetzt das Statistische Amt (Istat).
Die Eltern und die beiden Kinder verfügen, nach Abzug von Steuern, Elektrizität, Gas und Wasser, monatlich über insgesamt 520 Euro.
Manuela rechnet: Pro Mahlzeit braucht ein Erwachsener 150 Gramm Pasta, die Kinder etwas weniger. Da es am Mittag und Abend Pasta gibt, braucht die Familie pro Tag knapp 600 Gramm Spaghetti oder Penne. Im Coop-Supermarkt gibt es eine Billiglinie: Ein Kilo Spaghetti kostet dort 52 Cents. Das ist sieben Mal weniger als Marken-Produkte (De Cecco, Voiello).
So essen denn Manuela, ihr Mann, der 10-jährige Knabe und das 13-jährige Mädchen jeden Mittag und jeden Abend Spaghetti oder Penne.
Ein Flasche des billigsten Tomaten-Sugos kostet 32 Cents. Ein selbstgebackenes Brot kommt auf zwei Euro. Die Milch für das Frühstück der Kinder ist teuer. Die Familie kann sich mit fünf Euro pro Tag ernähren.
Schuhe für zehn Euro
Einmal pro Woche fährt Manuela mit dem Moped in den nahen Coop-Supermarkt. Dort steht, direkt am Eingang, ein grosser Verkaufsstand. Jeden Tag werden hier Gemüse und Früchte angeboten: für weniger als einen Euro das Kilo. Heute gibt es Blumenkohl, Spinat, Fenchel oder Äpfel – alles zu 99 Cent das Kilo. Die Leute stürzen sich auf die Angebote, auch Manuela.
An der Ausfallstrasse, dort, wo die Lastwagen vorbeibrausen, besitzt Manuelas Familie, die Bernardis (Name geändert), einen Flecken Land. Hier pflanzen sie Gemüse an. Der Boden ist wenig fruchtbar, doch für Cavolo nero, Tomaten und etwas Salat reicht es.
Kleider kauft Manuela auf dem Wochenmarkt. Sie ist erstaunt, welchen Zulauf in jüngster Zeit die Stände mit den Billigstangeboten haben. Eine Bluse für zwei Euro, Schuhe für zehn Euro, Jeans für sieben Euro, ein Jupe für vier Euro. „Offenbar sind wir nicht die Einzigen, die arm sind“.
Das geschenkte Huhn
Auf dem gleichen Markt verkauft Antonio grillierte Hühner. Sie sind mager. Woher sie kommen, sagt Antonio nicht. Stammen sie aus Ungarn oder Rumänien? Die armseligen Kreaturen drehen sich vor einer Feuerwand und werden so gegart. Jeden Donnerstag verkauft Antonio etwa 150 Stück. Was übrig bleibt, bringt er am Abend ins Altersheim. Manchmal schenkt er den Bernardis ein Huhn. „Ein Festessen“, sagt Manuela.
Am Wochenende trinken die Eltern Wein zum Essen. Eine Fünfliter-Flasche beim Bauern kostet vier Euro.
Kleider, die schon getragen wurden, sich aber in gutem Zustand befinden, erhält die Familie ab und zu von der Glaubensgemeinschaft Sant’Egidio.
Manuela geht immer wieder putzen. So verdient sie fünf Euro die Stunde. Ihr Mann war früher bei einem Bauherrn angestellt, doch dieser hatte kein Geld mehr und musste ihn entlassen. Jetzt verdient er einige Euro mit Gelegenheitsarbeiten. Zudem erhält die Familie eine staatliche Unterstützung.
"Den Gürtel enger schnallen"
Die Neujahrsbotschaft von Ministerpräsident Mario Monti hat Manuela am Fernsehen gesehen. „Wir alle müssen den Gürtel enger schnallen“, sagte Monti. „Wie können wir den Gürtel enger schnallen“, kommentiert Manuela, „wir haben jetzt schon nichts“.
Die Familie ist verzweifelt. Sie weiss nicht, wie es weitergeht. Alles wird jetzt noch teurer. Das Gemüse, die Milch, der Kaffee, Strom, Gas, Elektrizität, Wasser, der Bus, die Eisenbahn, die Abfallgebühren. Im September wird die Mehrwertsteuer erneut erhöht. „Wir müssen jetzt solidarisch zusammenhalten“, hatte Staatspräsident Napolitano am Fernsehen gesagt. Manuela seufzt nur. „Solidarisch? Solidarisch?“
Das Schlimmste: Jetzt kommt die Immobiliensteuer wieder. Italien ist nicht das Land der Mieter. 80 Prozent aller sind Haus- oder Wohnungsbesitzer. So auch die Bernardis. Die vier leben in einem engen Häuschen am Stadtrand. Berlusconi hatte vor vier Jahren die Immobiliensteuer auf das „erste Haus“ (prima casa) abgeschafft. Dies hat wesentlich zu seinem Wahlsieg beigetragen. Jetzt führt Mario Monti die Steuer wieder ein. Das sind zwar, je nach Grösse des Hauses, nur wenige hundert Euro pro Jahr. Doch für jene, die nichts haben, ist das viel. Manuela hofft, dass der Staat den Armen diese Steuer erlässt.
Die schönen Frauen mit den langen Beinen
Manchmal leistet sich Manuelas Mann einen Espresso in der nahen „Garibaldi“-Bar. Auch dem Bar-Besitzer geht es nicht gut. Im letzten Jahr hat er 15 Prozent weniger verdient.
In der Bar liegt auch „La Nazione“, die Zeitung, die sich die Bernardis nicht leisten können. Dort liest Manuelas Mann, dass jede Familie im neuen Jahr 2100 Euro mehr bezahlen muss. „Wir können doch nicht noch mehr sparen“, sagt Manuela.
Dass der Benzinpreis der höchste in ganz Europa wird, stört sie wenig. Ein Auto besitzen die Bernardis nicht. Auch in die Ferien fahren sie nie. Ihr einziger Luxus: Sie besitzen einen alten Computer mit Internet-Anschluss.
Abends sitzen die Eltern vor dem Fernsehen. Eine andere Welt tut sich auf: Die Welt der wunderschönen Frauen mit langen Beinen, Minijupes, langen Haaren und aufgeblasenen Lippen. Die Welt der Shows, der Reichen, der Reklamen, der unbegrenzten Möglichkeiten. Kommentarlos konsumieren die Bernardis diese Sendungen. „Was sollen wir wütend sein, die sind eben reich und wir sind eben arm.“
“An uns denkt niemand“
Politische Sendungen sehen sie selten. „Ob Berlusconi oder Monti, ob die Linke oder die Rechte“, sagt Manuela, „an uns denkt niemand, für uns ändert sich nichts“.
Ob sie weiss, dass Politiker und Beamte in Italien mit 86‘000 Dienstfahrzeugen unterwegs sind, die den Staat jedes Jahr 1,2 Milliarden Euro kosten? Sie weiss es nicht. Sie will es auch gar nicht wissen. Jetzt will Monti diese Ausgaben radikal einschränken. Auch die horrenden Diäten der italienischen Politiker (sie verdienen doppelt so viel wie im europäischen Durchschnitt) will Monti reduzieren. All das beschäftigt Manuela wenig.
Am Fernsehen hat sie auch die Weihnachtsgeschichte gehört, die sich ganz Italien erzählt. Im Supermarkt ist eine arme Frau aufgegriffen worden. Sie hat zu Weihnachten ein Stück Fleisch gestohlen. Die Polizei nahm sie fest. Anstatt sie anzuzeigen und sie zu büssen, luden sie die Polizisten zu einem Essen ein. Barmherzigkeit vor Weihnachten. Imagepflege der Polizei. Manuela lächelt nur. Die normale Wirklichkeit sieht brutal anders aus.
Noch nie waren die Italiener so pessimistisch
Die Bernardis sind befreundet mit Roberto, einem jungen Coiffeur. Er verzeichnete im letzten Jahr einen Einbruch von 30 Prozent. „Bei den Haaren kann man eben sparen“, sagt er. Da geht man nur noch jeden zweiten Monat zum Barbiere und zahlt zehn Euro.
Am Fernsehen hat Manuela vernommen, dass die Weihnachtsverkäufe eingebrochen sind. Bei den Kleidern und Schuhen betrug der Rückgang im Vergleich zum Vorjahr 18 Prozent, bei Hauseinrichtungen und elektronischen Geräten gar 24 Prozent. Am wenigsten sparte man bei den Lebensmitteln (minus 1,5 Prozent). Im Durchschnitt gaben die Italiener und Italienerinnen dieses Jahr 166 Euro für Weihnachtsgeschenke aus.
„166 Euro? Wir träumen“, sagt Manuela. Die 13-jährige Tochter kriegte einen Pullover und einen ledernen Rucksack für die Schulsachen. „Sie ist gut in der Schule, sie liest viel.“ Der 10-jährige Junge erhielt einen neuen Game-Boy.
Wird das neue Jahr besser werden? Manuela zuckt mit den Achseln. Sie gehört zu jenen, die zwar hoffen, aber nicht an eine bessere Zeit glauben.
Meinungsumfragen zeigen, dass die Italiener noch nie so pessimistisch in die Zukunft blickten wie heute. 42 Prozent der Befragten glauben, dass begonnene Jahr würde schlechter sein als das vergangene. Nur 26 Prozent glauben an eine Besserung. Manuela gehört nicht dazu.
Plastikblumen vor dem Altar
Jeden Morgen fährt sie mit ihrem Moped zur Kirche. Sie, die schöne junge Manuela mit den strahlenden Augen, wirkt wie ein Fremdkörper vor diesem schäbigen Altar, dort, wo einige Plastikblumen stehen und drei, vier alte Frauen sitzen.
Manuela kniet nieder und betet. Sie betet, dass ihr Mann wieder eine Stelle kriegt. Dass es ihren Kindern besser gehen wird als ihr. Dass niemand in der Familie zum Alkoholiker wird. Dass die Bernardis nicht jeden Euro umdrehen müssen. Dass nicht jeden Tag nur Spaghetti auf den Tisch kommen.