Karfreitag und Ostern 2020 werden als Feiertage der Geistergottesdienste in die kirchlichen Annalen eingehen. Im Unterschied zu Geisterfussballspielen, die schon dann und wann als Quittung für Gewaltexzesse der Fans vor leeren Rängen als «tote» TV-Ereignisse haben stattfinden müssen, hat das Verbot des Besuchs kirchlicher Feiern nichts mit Strafe zu tun. Es sind einzig die religiösen Fundamentalisten, die in der Corona-Seuche eine göttliche Erziehungsmassnahme sehen. So hanebüchen diese Deutung, so verantwortungslos zeigte sich auch das Verhalten dieser Gruppen angesichts der Bedrohung durch das Virus. Selbst ein katholischer Würdenträger verirrte sich jüngst in die Nähe solchen Sektierertums (seine Vorgesetzten haben ihn umgehend zum Schweigen verknurrt).
Mit ihren Geistergottesdiensten zu Ostern zeigen sich die Kirchen auf der Höhe der Situation. Weil der Gottesdienstbesuch nicht möglich ist, weichen sie vollständig auf Radio, TV, Internet und Social Media aus. Neben den bewährten Formaten und Kanälen entstehen viele neue Modelle. Diese überzeugen gerade mit ihrem improvisierten, provisorischen Charakter, der deutlich macht: Es fehlt etwas, das Zusammenkommen lässt sich nicht einfach ersetzen, aber der Behelf ist besser, viel besser als nichts.
Auch wenn es die Osterfeiern an Popularität mit Weihnachten nicht aufnehmen können, sind sie für das Christentum trotzdem noch wichtiger als das winterliche Fest. Die Begehung von Karfreitag und Ostern erinnert Jahr für Jahr an die Ereignisse um jenen jüdischen Rabbi, die sich ums Jahr 33 in einer entlegenen römischen Provinz abgespielt haben. Die humane Botschaft sowie die schuldlose Verurteilung und der schreckliche Tod dieses Jesus von Nazareth wurden im Rückblick zur Gründungsgeschichte einer Gemeinschaft, für die in diesem Christus Gott selber gegenwärtig ist.
Existentielle und historische Leidenserfahrungen
Auch, wie Max Weber sie nannte, «religiös unmusikalische» Menschen erkennen im Passions-Oster-Zyklus das existentielle Muster des Durchgangs durch Leidenserfahrungen. Solche bleiben wohl niemandem erspart. Im grossen Massstab machen sie als Unrecht, Unterdrückung und Krieg die Nachtseiten der Geschichte aus. Ist nun die Corona-Pandemie wie Leiden und Tod des Jesus von Nazareth eine Folge menschlichen Verhaltens und Tuns? Hat sie wie so viele Verheerungen in Geschichte und Gegenwart klare Ursachen in menschlicher Unfähigkeit zu solidarischem und klugem Verhalten?
Die einfache Antwort auf diese Frage kommt von Propagandisten und Verschwörungstheoretikern. Sie wissen selbstverständlich, wer schuld ist. Es sind, je nachdem: die Chinesen, die Amerikaner, die Juden. Realistische Antworten hingegen sind kompliziert. Sie beziehen natürliche Vorgänge wie spontane Mutationen von Viren und unvorhersehbare Übertragungswege ein, sehen aber auch menschliche Faktoren wie die Vernichtung von Habitaten für Wildtiere (wie beispielsweise Fledermäuse) und schwerwiegendes Fehlverhalten vieler Verantwortlicher und Betroffener, wie es vor allem in der ersten Phase beim Ausbruch der Pandemie offenkundig vorkam.
Jenseits der Suche nach Schuldigen wird man die Frage nach den Ursachen für Ausbruch, Verlauf und Abebben der Pandemie auf allen Ebenen und in sämtlichen Handlungsfeldern zu klären versuchen, um in ähnlichen Fällen zukünftig besser gewappnet zu sein. Zurzeit jedoch haben der Kampf gegen die Seuche und die Hilfe für Betroffene Vorrang. Wir fangen erst allmählich an zu begreifen, dass beides uns noch sehr lange beschäftigen wird.
Lange Bewährungsprobe
Mit den nun wahrscheinlich baldigen ersten Lockerungen von Beschränkungen kommt zwar ein «Ende des Tunnels» in Sicht, wie Bundesrat Berset sagt. Aber noch lange kein Ende von Corona. Und selbst die Freigabe eines Impfstoffs in vielleicht einem Jahr wird nicht das Ende der Katastrophe sein. Die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Folgen werden die Welt über Jahre hinweg schwer belasten. Auch zerstörerische Nachwirkungen wie Staatsbankrotte oder Hyperinflation sind nicht völlig ausgeschlossen.
Die Corona-Passion wird nicht so schnell in eine Auferstehung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens münden. Deshalb ist in dieser Passion die Tugend der Patience gefordert: Geduld, Beharrlichkeit, Langmut. Das in der noch kurzen Krisenzeit erstaunlich gut antrainierte Verhalten wird sich auf der langen Strecke bewähren müssen, wenn die aufwühlenden Bilder der überbelegten Intensivstationen, der erschöpften Ärztinnen und der behelfsmässigen Leichenhallen aus den Nachrichten wieder verschwunden sind. Der Chor derjenigen, der jetzt schon in anklägerischem Ton die schnellstmögliche Rückkehr zur Normalität fordert, wird anwachsen, je länger die Beschränkungen andauern. Und er wird um so grössere Zustimmung finden, je ungreifbarer und unspektakulärer die Bedrohung sich darstellt.
Bestätigung und Rückenwind
Schon bei Beginn des Notstands traten Warner hervor, die in der bereitwilligen Befolgung der Corona-Massnahmen eine eilfertige Preisgabe von Freiheitsrechten erblickten. Die derart folgsamen Menschen hätten heimlich oder auch unbewusst danach gelechzt, sich einer autoritären Führung zu unterwerfen. Vor drei Tagen fügte der italienische Philosoph Giorgio Agamben in der «Neuen Zürcher Zeitung» diesem Diskurs eine zusätzliche Volte bei, indem er darüber sinnierte, die Willfährigkeit der Bürger in liberalen Gesellschaften enthülle bloss den autoritären Geist, der dort in Tat und Wahrheit bereits zuvor geherrscht habe.
Agamben sieht in der Corona-Pandemie eine Apokalypse, im Wortsinn: eine Enthüllung dessen, was verborgen schon da war. Endlich, so der Subtext seines kleinen Essays, bekommt er Recht mit dem, was er schon immer gesagt hat.
Andere wollen in der Pandemie den nun endlich für alle unübersehbaren grünen Fingerzeig erkennen: Seht, es geht ja mit viel weniger Flugverkehr, Autoverkehr, Konsumbetriebsamkeit! Also lasst uns nach Überwindung des Virus die Konsequenz ziehen, erst gar nicht wieder damit anzufangen! – So legen sich nun viele eine passende Auferstehung zurecht, die einen als Bestätigung ihres Urteils, die anderen als Rückenwind für ihre Agenda.
Leben im Modus der Patience
Für solche Indienstnahmen eignet sich das christliche Narrativ von Karfreitag und Ostern nicht. Auferstehung ist nach den biblischen Erzählungen nicht das Licht am Ende des Tunnels, nicht die Erfüllung von Hoffnungen oder die Verwirklichung von Ideen. Sie ist das schlechterdings Unerwartete. Nach der Erzählung des Markusevangeliums macht es zuerst Angst. Die Beteiligten verstehen es nicht. Erst im Rückblick wird das schreckliche Ende zum Neubeginn und in dessen Folge zum Ausgangspunkt einer grossen Bewegung.
In der biblischen Erzählung brauchte der Umschwung von der Kreuzigung zum Aufbruch ein paar Tage. Wir werden mit den Folgen von Corona vermutlich ein paar Jahre zu kämpfen haben. Wir werden lange im Modus der Patience zu leben haben, ohne genau zu wissen, was uns noch alles bevorsteht und wie es «danach» sein wird.
Bei den frühen Christen ging es übrigens so weiter: Sie lebten in der Überzeugung, es werde weniger als ein Menschenleben lang dauern, bis der Auferstandene wiederkomme – und mit ihm das verheissene Reich Gottes, also die völlige Veränderung der Welt von innen heraus und damit auch die endgültige Klarheit, wer zu den Guten gehöre und wer nicht. Auf diese Parousie (Wiedererscheinung) haben sie, wie wir wissen, vergeblich gewartet. Doch irgendwann haben die Christen damals in der Spätantike gelernt, im Wartestand zu leben, das heisst, es mit der unbeantworteten Hauptfrage ihres Glaubens dauerhaft und geduldig auszuhalten.
«Patience» hängt wie «Passion» mit dem lateinischen «patior» und dem griechischen «pas–cho» (erleiden) zusammen. Im Jahr 2020 tun wir gut daran, die Ostergeschichte als Einübung in Geduld, Beharrlichkeit und Langmut zu buchstabieren.