Matera, eine der ältesten Stadtsiedlungen der Welt, liegt in der Region Basilicata an der Sohle des italienischen Stiefels. Es ist ein begehrter Drehort für Filme, die antike Szenerien benötigen. Die Stadt hat nicht zuletzt wegen grassierender Armut ein pittoreskes Ambiente, welches das Kinopublikum unfehlbar in seinen Bann zieht. Unschlagbar ist Matera insbesondere für biblische Szenen; es hat für berühmte Jesus-Filme als das sozusagen «echtere» Jerusalem gedient. Hier hat Pier Paolo Pasolini 1964 mit «Il Vangelo secondo Matteo» das kinematografisch bedeutendste Werk des Genres realisiert. Vierzig Jahre später drehte Mel Gibson wichtige Teile seines opernhaften und exzessiven «The Passion oft the Christ» (2004) ebenfalls an diesem Ort.
Passionsspiel als politische Aktion
Im Jahr 2019 war Matera «Kulturhauptstadt Europas». Der umtriebige Theatermann Milo Rau wurde angefragt, für die Stadt in diesem Rahmen etwas zu inszenieren. Ihm war, wie er sagt, sogleich klar, dass er mit den Ansässigen einen Jesus-Film drehen wollte. Am Gründonnerstag sollte jetzt «Das neue Evangelium» in die Kinos kommen. Da diese geschlossen sind, kann man den Film streamen zum Preis eines Kinoeintritts, wobei man den Betrag einem Kino der eigenen Wahl zugutekommen lässt.
Was immer Milo Rau an Stoffen anfasst, wird zum Manifest von Aufruhr und Widerstand, zum politischen Bekenntnis und Kampf gegen die Ungerechtigkeiten der Welt. Aktionismus im Geist marxistischer Agitation ist sein ästhetisches Credo. Er folgt darin seinem Lehrmeister Bert Brecht, der mit dem Konzept des «epischen Theaters» das Publikum an einer emotionalen Identifikation mit den Protagonisten hindern und stattdessen mittels «Verfremdungseffekten» in eine reflektierende, analysierende Position bringen wollte.
Rau «verfremdet» seinen neuen Film mit ausgiebigen Einblicken ins «Making of». Zu Beginn tritt er selbst mit seinem Hauptdarsteller vor dem umwerfenden Panorama Materas auf, redet in lockerem Small Talk über die Vorgänger Pasolini und Gibson sowie das eigene Filmprojekt und zeigt Yvan Sagnet, wo er dann als Jesus sterben werde – was jener grinsend kommentiert. Als weitere Verfremdung werden im Film immer wieder Takes erst geprobt und dann gespielt, Darsteller requiriert und eingekleidet.
Es sind diese Brechungen, die den Spiel- und Kunstcharakter der Rau’schen Agitation aufrechterhalten. Deshalb stimmt auch die hübsche Pointe nicht ganz, mit der Jean-Martin Büttner den Macher des Films charakterisiert, nämlich als den Jean Ziegler der Theaterwelt («Die Zeit», 31.3.2021). Wo bei Ziegler bedingungslose Attacke und rückhaltloses Eifern herrschen, sehen wir bei seinem Freund Rau ein kalkuliertes Vorgehen: Seine Geschichten halten sich an die Brecht’sche Devise, Aufklärung sei nicht per emotionaler Überwältigung quasi als Fertigprodukt dem Publikum zu applizieren, sondern müsse als Werkzeug zu dessen eigener Einsicht und Ermächtigung funktionieren.
Flüchtlinge in den Fängen der Mafia
In und um Matera sind Tausende der über das Mittelmeer gekommenen Flüchtlinge gestrandet. Sie leben in elenden Behausungen und arbeiten auf den Feldern bei der Orangen- oder Tomatenernte. Angeworben von skrupellosen «Caporali», die von den kargen Taglöhnen grosszügige Vermittlungs- und Transporttarife für sich abzweigen, sind sie den mafiösen Machenschaften schutz- und rechtlos ausgeliefert.
Mit dem aus Kamerun stammenden Yvan Sagnet hat Rau einen Aktivisten für die Hauptrolle verpflichtet, der in Italien ein Ingenieurstudium absolviert und bei einem Studienunterbruch im süditalienischen Salento als Tomatenpflücker gearbeitet hat. Dort lernte er am eigenen Leib das Mafia-System des «Caporalato» kennen. Schon nach wenigen Tagen organisierte er einen Landarbeiterstreik und erreichte schliesslich, dass die in der Ernte Beschäftigten Arbeitsverträge erhielten. Sagnet schrieb zwei Bücher über die mafiösen Strukturen in der Landwirtschaft und gründete «No Cap», eine Selbsthilfe-Organisation, die Labels für gute Arbeitsbedingungen vergibt und Produkte vermarket, die frei von Caporalato sind.
Die aktualisierte Evangeliums-Erzählung verbindet biblische Szenen mit der Geschichte dieser Selbsthilfe, die ganz im Zeichen des Stichworts «Dignità» steht. Rechtlose und Ausgebeutete kämpfen um ihre Würde, und ganz selbstverständlich ist in der Verschränkung beider Handlungsstränge Jesus derjenige, der sich an die Spitze der «Rivolta della Dignità» stellt.
Grundlage dieser Parallelisierung ist Milo Raus Frage: Was würde Jesus heute tun? – Es ist eine genuin christliche Frage. Ganz ähnlich hat sie Martin Niemöller, der Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime und Mitbegründer der Bekennenden Kirche, formuliert. Sein «Was würde Jesus dazu sagen?» war ein Kernsatz des christlichen Widerstands. Daran knüpft Milo Rau legitimerweise an. Seine Parabel über Jesus und die Entrechteten in Matera bezieht ihre Kraft aus dem den realen Verhältnissen der Welt entgegengesetzten Evangelium. Pasolini hat diese Wirkung im Blick auf seine eigene filmische Beschäftigung mit dem Matthäusevangelium so formuliert: «Nichts scheint mir gegensätzlicher zur modernen Welt als jene Christusfigur: sanft im Herzen, aber nie im Denken.»
Auferstehung in gerechter Tomatensauce
Die vier Evangelien – Matthäus, Markus, Lukas, Johannes – münden in die Erzählungen über das Leiden und Sterben Jesu, denen sie so breiten Raum geben, dass sie als «Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung» bezeichnet worden sind (so vom wegweisenden Bibelwissenschaftler Martin Kähler Ende des 19. Jahrhunderts). In diesem Punkt hat sich Milo Rau mit seinem polit-aktivistischen Ansatz eine Schwierigkeit eingehandelt. Trotz aller Intensität der Leidensdarstellung ergibt sich bei ihm die Passion Jesu nicht zwingend aus dem Vorangegangenen. Die Verknüpfung der Stränge will nicht recht gelingen.
Rau lässt einen professionellen Schauspieler die Rolle eines Soldaten wählen, der Jesus foltert. Er tut es, weil er es «interessant» findet, «den heiligen Gott zu töten und zu massakrieren». Was dann geschieht, geht unter die Haut: Der kräftige Mann mit nacktem Oberkörper peitscht im Sinne eines Castings im hallenden Kirchenraum auf einen Schalenstuhl ein – und dies mit einer Eruption von Rassismus und Brutalität, die wirklich zum Fürchten ist. Später folgt dann die mit Maskenbildner-Kunst und Filmblut inszenierte Auspeitschung Jesu vor der Kreuzigung durch kostümierte römische Soldaten. Man muss sich, obwohl vorbereitet durch die vorangegangene Verfremdungsszene, am Sessel festhalten.
Gefangennahme, Verurteilung, Folterung, Verspottung und Kreuzigung Jesu: Der Kern der Jesusgeschichte ist so verankert im christlichen Kulturraum, dass jede Inszenierung ohnehin viel kleiner ist als die kollektive Erinnerung. Milo Rau hat (genau wie übrigens auch Mel Gibson) die Nutzung dieses Umstands verschenkt und versucht, gross anzurichten.
Bei der eigentlichen Passionserzählung geht nun aber ein Bruch durch das Konstrukt der miteinander verflochtenen Geschichten: Der Anführer der «Rivolta della Dignità» ist eben nicht gekreuzigt worden. Er hat mit seiner Organisation «No Cap» vielmehr ein Stück weit Gerechtigkeit erwirkt. Diese aktuelle Geschichte bleibt auf dem Boden der konkreten politischen Verhältnisse. Sie ist nicht universell menschlich wie die Evangelien. Im Nachspann gibt Milo Rau einen klaren Hinweis: Yvan Sagnet, jetzt nicht mehr als Jesus, schlendert durch einen Supermarkt und hält triumphierend ein Glas «No Cap»-Tomatensauce in die Höhe. Das Äquivalent zur Auferstehung des gekreuzigten Jesus ist dieser kleine (und wichtige!) Triumph seines politischen Aktivismus.
Diesen narrativen Bruch braucht man übrigens keineswegs als Nachteil oder gar Fehler des Films zu werten. Er passt vielmehr ganz gut zu Milo Raus ästhetischer Konzeption der Brecht’schen Verfremdung. Mit «Ein neues Evangelium» hat er den Schweizer Filmpreis 2021 in der Kategorie Dokumentarfilm gewonnen. Der Preis ist verdient und die Zuordnung zu den Dokumentarfilmen interessant, da er genauso gut als Spielfilm rubriziert werden könnte.
Raus neuer Film ist schwierig zu beurteilen, aber auf jeden Fall äusserst sehenswert. Und dass er jetzt bei der gezwungenermassen online erfolgenden Distribution gleichzeitig eine Solidaraktion für die Kinos ist, sollte eigentlich Schule machen.
Die Website dasneueevangelium-film.ch bietet ausführliche Informationen und die Möglichkeit, den Film zu streamen.
Fotos: THE NEW GOSPEL l ©Fruitmarket/Langfilm/IIPM/Armin Smailovic