In Bagdad haben Anhängerinnen und Anhänger des populistisch-nationalistischen Geistlichen Muqtada al-Sadr das Parlament besetzt. Nun steigt die Furcht vor einer militärischen Eskalation.
Das irakische Parlament gibt in diesen Tagen ein ungewohntes Bild ab: Zelte umsäumen das Gebäude, während im Inneren Demonstranten mit Decken improvisierte Lager aufgeschlagen haben. Am Mittwoch wurde die Grüne Zone – ein stark gesicherter Stadtteil Bagdads, in dem sich Regierungsgebäude und internationale Botschaften befinden – bereits ein erstes Mal von Demonstrantinnen und Demonstranten gestürmt. Der Protest richtete sich gegen die Ernennung von Muhammad Schia as-Sudani, der vom Parlament als neuer Ministerpräsident vorgeschlagen worden war. Am Freitag nun gesellten sich zahlreiche Demonstrierende aus den südlichen Landesteilen zu den Protesten. Offensichtlich wird diesmal nicht nur ein einzelner Entscheid des Parlaments bekämpft. Die Zelte zeigen: Das Parlament soll langfristig besetzt werden.
Der Premierminister schaut weg
Beim Sturm auf die Grüne Zone wurden mindestens 125 Menschen durch den Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas verletzt. Das ist eine ausgesprochen friedliche Bilanz, vergleicht man sie mit den Hunderten von Todesopfern bei den Massendemonstrationen von 2019. Sowohl an den Checkpoints in den umliegenden Quartieren wie an den Mauern zur Grünen Zone blieb die Polizei, nach anfänglichem Widerstand, weitgehend passiv. Eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass der amtierende Premierminister Mustafa al-Kadhimi den Protesten wohlgesonnen ist und entsprechende Anweisungen an die Sicherheitskräfte erlassen hat. In seiner Stellungnahme zu den Ereignissen übte Kadhimi kaum Kritik an den aktuellen Ereignissen. Statt die Besetzung des Parlaments zu verurteilen, betonte er lediglich die Notwendigkeit, dass die irakische Bevölkerung in diesen «schwierigen Zeiten» zusammenstehen müsse.
Die «Koordination» als gemeinsamer Feind
Das passive Verhalten von al-Kadhimi erstaunt keineswegs. Bei den Besetzern handelt es sich um Anhängerinnen und Anhänger von Muqtada al-Sadr, die den gleichen Gegner haben wie Kadhimi selbst: Der Parteienzusammenschluss «Koordinationsrahmen», zu dem nicht nur der langjährige Premierminister Nuri al-Maliki gehört, sondern auch die politische Vertretung der sogenannten Volksmobilisierungseinheiten, den «Haschd». Die Haschd umfassen paramilitärische Gruppen, die durch den Iran unterstützt werden. Obwohl offiziell Teil der irakischen Sicherheitskräfte, agieren die Haschd weitgehend unabhängig von staatlicher Kontrolle. Selbst Kadhimis Wohnsitz wurde zum Ziel eines Drohnenangriffs der Haschd, nachdem er Verständnis für die antiiranischen Proteste der vergangenen Jahre geäussert hatte.
Am Montag hat die Polizei eine Gegendemonstration der Haschd daran gehindert, in die Grüne Zone zu gelangen. Auch hier dürfte sich, neben der Furcht vor der zu erwartenden Gewalt zwischen den beiden Protestgruppen, Kadhimis kritische Haltung gegenüber den Milizen durchgesetzt haben.
Gescheiterte Regierungsbildung
Der Premierminister spielt bei den Ereignissen in Bagdad allerdings nur eine Nebenrolle. Die Hauptkontrahenten sind die Parteienkoalition der «Koordination» inklusive der Haschd-Vertretung einerseits und Muqtada al-Sadr andererseits. Die Sadristen, wie die Anhängerinnen und Anhänger Sadrs genannt werden, konnten mit ihren Kandidierenden bei den Parlamentswahlen von vergangenem Oktober die meisten Sitze erringen.
Die restlichen schiitischen Parteien dagegen mussten erhebliche Sitzverluste hinnehmen. In der «Koordination»-Koalition fanden diese Wahlverlierer zusammen. Ihr Einfluss reicht weiterhin aus, um die Regierungsbildung der Sadristen im Parlament zu verhindern.
Auf diese Blockadetaktik reagierte Sadr überraschend: Mitte Juni zog er seine Abgeordneten aus dem Parlament ab und überliess auf diese Weise seinen Gegnern vermeintlich das Feld. Dass es sich dabei um ein taktisches Manöver handelte, mit dem Sadr seine regierungskritische Haltung wahren wollte, und nicht um einen wirklichen Rückzug vom politischen Prozess, stand dabei ausser Frage. Massengebete in den Strassen Bagdads Mitte Juli stellten eine erste Machtdemonstration der Sadristen dar, nun folgte der Sturm auf das Parlament.
Entwaffnung der «Haschd» als Ziel
Der Rückzug der Sadristen aus dem Parlament war eine Reaktion darauf gewesen, dass sie für eine Regierungsbildung Kompromisse mit den «Koordinations-»Parteien hätten eingehen müssen. Genau das aber war für Sadr ausgeschlossen. Er wollte explizit keine Regierung des «Ausgleichs» mehr – womit die Machtteilung zwischen den grossen schiitischen Parteien gemeint ist, die den Irak seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein von 2003 dominieren. Er strebt eine Regierung der «Nationalen Mehrheit» an, in der die schiitischen Sadristen einen Block mit sunnitischen und kurdischen Parteien bilden und so die etablierten schiitischen Parteien ausgeschlossen werden sollen. Dadurch, so Sadr, sollen Korruption und Konfessionalismus überwunden werden. Explizit gegen die Haschd ist auch Sadrs Forderung gerichtet, die paramilitärischen Gruppen zu entwaffnen – ein Schritt, von dem seine eigenen Einheiten aller Voraussicht nach ausgenommen bleiben würden.
Der selbsternannte Volkstribun
Muqtada al-Sadr selbst kandidierte nie für ein politisches Amt. Seine Macht gründet auf der religiösen Autorität seines 1999 vom Baath-Regime ermordeten Vaters. Dessen Anhänger unterstützen heute Sadr, der sich auf diese Weise als geistliche Autorität etablieren konnte. Seine ungenügende Qualifikation als Geistlicher gleicht er durch häufige Bezüge auf seinen Vater und durch frenetischen Patriotismus aus. So stellt er seine schiitische Autorität als explizit irakisch den iranisch unterstützten Gruppen, insbesondere den Haschd, entgegen.
Für Sadr sind die aktuellen Proteste dementsprechend keine Aktion seiner Anhängerinnen und Anhänger, sondern Ausdruck des Willens des irakischen Volkes, das sich gegen äussere Einflüsse und korrupte Politiker auflehne. Auf diese Weise versucht Sadr, sich als Kopf der Opposition und Sprachrohr der irakischen Bevölkerung darzustellen.
Die Rolle als Volkstribun, die Sadr seit 2003 immer wieder eingenommen hat, war ihm 2019 abhandengekommen. Damals richteten sich Massenproteste gegen die korrupte politische Elite und gegen den iranischen Einfluss im Irak. Und Sadr wurde, zu seinem Verdruss, von dieser Kritik keineswegs verschont.
«Muharram» statt «Oktoberrevolution»
Nun versucht Sadr, die Initiative der Regierungskritik wieder zu erlangen. Er hat die aktuellen Proteste gar als «Muharram-Revolution» bezeichnet, nach dem aktuellen islamischen Monat Muharram. Damit will er die derzeitige Besetzung des Parlaments als Fortsetzung der als «Oktoberrevolution» bezeichneten Demonstrationen von 2019 darstellen. Wobei der Verweis auf den Monat Muharram bei den sunnitischen und kurdischen Parteien, mit denen Sadr zusammenarbeiten will, für Irritation sorgen dürfte. Der Muharram als schiitischer Trauermonat stellt einen starken Bezug auf die schiitische Tradition dar und taugt daher kaum als überkonfessionelles Symbol irakischer Einheit.
Die physische Besetzung des Parlaments mit Zelten und Demonstranten spielt ebenfalls auf die Oktoberproteste an. 2019 und 2020 wurden zentrale Plätze und Brücken in Bagdad und den südlichen Landesteilen mit ebensolchen Camps besetzt und so symbolisch von der Bevölkerung in Besitz genommen. Die Besetzung des Parlaments zeigt: Sadr beansprucht den Staat für sich und ist gewillt, diesen Anspruch auch mit ausserparlamentarischen Mitteln durchzusetzen. Der Rückzug der sadristischen Abgeordneten aus dem Parlament im Juni und nun die Rückkehr seiner Anhängerinnen und Anhänger als Besetzer liefert hierfür ein deutliches Bild. Für eine längere Anwesenheit der Demonstrierenden spricht auch Sadrs Äusserung, nicht die Fehler von 2016 zu wiederholen. Damals hatten seine Gefolgsleute bereits einmal die Grüne Zone gestürmt. Das Ziel, das gegenwärtige politische System zu überwinden, war damals wie heute dasselbe. Diesmal, so ist die Aussage Sadrs zu deuten, soll der Abzug erst erfolgen, wenn die eigenen Ziele tatsächlich erreicht sind.
Sadr fordert Neuwahlen
Neben der Entwaffnung der Haschd und der Abschaffung des an konfessioneller Zugehörigkeit orientierten politischen Systems bleiben Sadrs Absichtserklärungen allerdings eher vage. Der bestimmende Slogan in Sadrs Wortmeldungen lautet denn auch «Reform». Damit versucht er, die Unzufriedenheit mit dem aktuellen System und der politischen Klasse zu kanalisieren, ohne dabei genaue Aussagen zu diesen angestrebten Reformen zu machen.
Sadr spricht zwar von Demokratie, äussert sich aber abschätzig über politische Parteien und positioniert sich konsequent als über dem politischen System stehend. Die Art und Weise, wie er eine religiös-nationale Symbolik mit der Kritik an der politischen Elite verbindet, erinnert kaum an ein liberales Verständnis von Demokratie.
Viel eher ist Sadr als religiös-nationaler, gesellschaftskonservativer Populist mit einer starken Tendenz zum Autoritarismus einzuschätzen. Seine Anhänger, die gegenwärtig im Parlament campieren, bestätigen diese Deutung, wenn sie die politische Elite verwünschen und gleichzeitig ihrem Anführer bedingungslose Treue schwören.
Als konkrete Forderung, die zur Bedingung für den Abzug aus dem Parlament gemacht werden könnte, bleibt diejenige nach Neuwahlen. Offenbar rechnet Sadr damit, bei einem erneuten Wahlgang eine stärkere Mehrheit zu erlangen und so genügend Rückhalt im Parlament zu gewinnen, um eine Regierung auch gegen den Widerstand der anderen schiitischen Parteien ernennen zu können.
Droht ein neuer Krieg?
Ob und wann es zu solchen Neuwahlen kommt, ist aber noch unklar. In der Zwischenzeit wächst die Furcht vor einem Zusammenstoss der Sadristen mit den Haschd. Sollte es dazu kommen, droht ein offener militärischer Konflikt zwischen den Haschd und den sadristischen paramilitärischen Einheiten, den sogenannten «Friedensbataillonen».
Der innerschiitische Konflikt zwischen Sadr und den iranisch unterstützten Parteien prägt den Irak seit dem Regimewechsel von 2003. Nun droht der erste offene Konflikt seit 2008. Damals übernahm die sadristische Mahdi-Armee, die Vorgängerorganisation der «Friedenbataillone», die Kontrolle über die südirakische Millionenstadt Basra. Der irakischen Armee gelang es damals erst mit massiver US-amerikanischer Unterstützung, die Stadt zurückzugewinnen. Und schon damals kämpften die paramilitärischen Einheiten der Badr-Brigaden auf Seiten der Regierungstruppen gegen Sadr; heute bilden sie einen bedeutenden Teil der Haschd.
Die innerschiitische Konfrontation ist für den Irak somit keineswegs neu. Der gemeinsame Kampf gegen den sogenannten «Islamischen Staat» zwischen 2014 und 2017 hatte die Spannungen zeitweilig überdeckt, nun treten sie erneut an die Oberfläche.
In diesem Konflikt pokert Sadr gegenwärtig hoch. Er scheint aber darauf zu vertrauen, dass ihm seine bewaffneten Einheiten genügend Schutz gewähren und er über genügend Rückhalt durch den Premierminister und in Teilen der irakischen Bevölkerung verfügt, um unangreifbar zu sein. Er geht so weit, selbst die Truppen der Haschd dazu aufzurufen, sich von ihrer Führung abzuwenden. Entscheidend für den weiteren Verlauf dieses Konflikts wird nun sein, wie die Haschd in den kommenden Tagen und Wochen auf die Provokationen durch al-Sadr reagieren.