Attention. Du wirst eine veränderte Stadt antreffen, nach den Attentaten. So hatten mich Freunde vorgewarnt. Die Pariser seien vorsichtiger, misstrauischer geworden. Und die Sicherheitsvorkehrungen überall massiv verstärkt, sehr sichtbar und manchmal schikanös. Im Herzen von Montmartre, wo ich wohnte, und auf all den Spaziergängen kreuz und quer durch die arrondissements, war wenig von Veränderung zu merken. Das Leben auf den Plätzen, in den Strassen und Cafés wuselte und wimmelte wie eh und je, in der Goutte d´Or zur Zeit des Freitaggebets so gut wie an der jüdisch geprägten rue des Rosiers.
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In Montmartre, das den Eindruck eines Luxusdorfes vermittelt, mit einfachen Bistrots und sündteuren Spezialitätenläden; mit etwas zu füllig geratenen US-girls, die, ausgestattet mit Wasserflaschen und Rucksäcken, durch die Gassen ziehen, spitze „oh my gooooood“-Rufe ausstossend, um sich dann schnell wieder der Selfie-Produktion zuzuwenden; mit Bettlern, Clochards, ganzen Familien, die nachts unter Wolldecken auf den Trottoirs lagern (wenn sich etwas geändert hat, erschreckend geändert, dann ist es ihre stark gewachsene Anzahl); in Montmartre lebt der Mythos Paris, wie ihn in jüngerer Zeit ein deutscher Professor anhand ausgedehnter Lektüren, Besichtigungen und Begehungen umfassend und tiefgründig beschrieben hat. Karlheinz Stierle heisst der kluge Mann aus Konstanz. Sein Buch, „Der Mythos von Paris“, ist 1993 erschienen.
Die verkörperte Sicherheit, in Form schwarz uniformierter Beamter hab ich dann doch noch angetroffen. An den Türen zu privaten und staatlichen Theatern. Da wurden die Taschen der Besucherinnen kontrolliert – und die Besucher oft unkontrolliert, dafür umso freundlicher in den Saal hinein komplimentiert. Theaterbesucher, davon ist wohl auszugehen, sind im allgemeinen friedliebend. Um sie zu kontrollieren (und zu beschützen) genügen symbolisch anmutende Massnahmen.
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Was sich drinnen in den Theatern ab-spielt, was sich für wunderbar schauerliche Abgründe auftun, das allein lohnt einen Besuch in der Stadt. Im intimen Theater „L´oeuvre“ nimmt sich Regisseur Peter Stein einen der grossartigsten Theatertexte des 20. Jahrhunderts vor, „La dernière bande“ von Samuel Beckett. Und er kann sich in der Aufführung auf einen Star verlasssen, auf Jacques Weber. Ein packender, ein berührender Abend. Im obligaten sparsamen Dekor – ein Tisch, ein Stuhl, ein Hinterraum, dazu die Bananen, auf denen der Alleindarsteller ausrutscht und die Tonbänder – entfaltet und geniesst Weber als Krapp seine ungeheure Bühnenpräsenz. Wenn er schlurfend, grummelnd, seufzend um seine Bänder herumkurvt, bis er sie zum Laufen bringt, stoppt und wieder in Bewegung setzt, unterbricht und kommentiert, offenbart sich Stück für Stück das Beckettsche End-Spiel, die ebenso komödiantische wie melancholische oder verzweifelte Beschwörung der Vergangenheit.
Im Riesenangebot der Pariser Theater findet sich etwas, was je nach Perspektive als starker Kontrast oder als ideale Ergänzung zu Becketts verstörenden Innenansichten menschlichen Daseins funtionieren könnte. Im Théâtre des Mathurins bringt Regisseur Patrick Pineau eine von Laurent Seksik stammende, stark gekürzte Fassung von Stefan Zweigs „Die Welt von gestern“, Erinnerungen eines Europäers, auf die Bühne. Auch er hat einen überzeugenden Schauspieler gefunden, Jéròme Kircher, der den Abend allein bestreitet. Zweig beschwört im brasilianischen Exil mitten im Zweiten Weltkrieg das alte Europa, das er, der Wiener, bis zum Ersten Weltkrieg als einen im „goldenen Zeitalter“ verharrenden Kontinent erfahren hat. Der sich im folgenden aufsplitterte, entzweite, bekriegte – vernichtete.
„Die Welt von gestern“ ist ein in mancher Hinsicht beklemmendes, gelegentlich prophetisches Buch. Wenn Beckett seinen scharfen Blick ins Innere des Menschen richtet, dann Zweig ins Aeussere, in das, was ihn umgibt, trägt und hält - und was er zu zerstören sich anschickt. Kircher spricht die Zweigschen Sätze wie beiläufig, vermeidet jegliches Pathos; er konversiert mit dem Publikum,wobei die Trauer, mit der Zweig seinen Text grundiert, Trauer über die unfassbare Selbstzerstörung eines Vielländerkonstrukts, als Leitmelodie mitschwingt. Ein ebenso feinfühliger wie eindrücklicher Abend der leisen Töne.
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Spielen nicht die Protagonisten der „Nuit debout“ auf der Place de la République auch eine Art von Theater? Betreten oder besetzen sie nicht eine Bühne, die für sie die Welt bedeutet, wenn sie sich beim Eindämmern zu Füssen der Marianne-Statue versammeln? Das Illusionäre, das in den Botschaften der hier sich Treffenden oft aufscheint, würde dem Theater gut anstehen. Das Eloquente, elegant Formulierte und Vorgetragene auch. Generöse grosse und ausgesprochen dürftige, kleine Geister nehmen sich in den französischen Zeitungen der Aufrechten von der Place de la République an. Misst man die jungen Republikaner am Grad der öffentlichen Beachtung, schlagen sie die Theater bei weitem. Ihre das real existierende Frankreich hart und heftig kritisierenden Aufführungen, beziehungsweise Voten und Reden sollten gehört werden.
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Karlheinz Stierle, der Konstanzer Professor, ist heute emeritiert. Der Mythos Paris lässt ihn nicht los. In diesem Frühling legt er nach mit einer weiteren Liebeserklärung an den Genius der Stadt: „Pariser Prismen“ (bei Hanser erschienen) nennt er sein neues Buch, in dem er „Zeichen und Bilder“ beschreibt und deutet, anhand ausgewählter Lektüren, die von Montesquieu oder Diderot bis zu Breton und Perec führen und das gebaute, das geschriebene, das gezeichnete (Giacometti, Sempé) Paris erfassen. Mythen haben es an sich, dass sie als nicht fassbare Sehnsuchtsorte existieren und doch reale Entsprechungen kennen, stetem Wandel unterworfen sind und gleichzeitig etwas Ewiges, Unverrückbares, Unzerstörbares darstellen und verkörpern. Paris toujours. Für Stierle ist die Stadt immer noch, was sie zu Aufklärungszeiten gewiss war: „lumière du monde civilisé“.