Schenkt man einem Grossteil von Zeitungsberichten aus Brasilien in den letzten Wochen Glauben, müsste man zum Schluss kommen, dass es neben der real existierenden Wirklichkeit eine Parallelwelt gibt. Ihr Zentrum ist ein Spielfeld, ihre Bewohner Zehntausende von Fans plus zwei Mannschaften auf dem Feld, austauschbar, aber immer 22 Mann stark, 25, wenn man Schieds- und Linienrichter dazu zählt. Herrscher über die Parallelwelt ist ein alter Mann aus dem Wallis. Seinen willfährigen Dienerinnen und Dienern hat man Fussbälle auf Ohren und Augen gedrückt. Das Hören und Sehen ist ihnen so ziemlich vergangen; sie verwechseln ständig die real existierende Wirklichkeit mit der aufs Spiel zentrierten Parallelwelt. Wenn sie ihren Beruf ausüben, für Zeitungen schreiben, für Radio und Fernsehen reden oder reden lassen, benutzen sie ausgiebig den Fussballjargon, sorgen dafür, dass die entsprechenden Metaphern und Bilder in ihre Texte fliessen: da werden gelbe und rote Karten verteilt, Steilpässe lanciert, Bälle flach oder hoch gehalten, Konter ausgeführt. Die real existierende Wirklichkeit Brasiliens, überhaupt ganz Lateinamerikas gehört schon seit Jahren nicht (mehr) zu den Themen, an denen europäische Medien ein besonderes Interesse hätten. Das wird sich, wenn morgen oder übermorgen die Fussball-Parallelwelt in Brasilien verdämmert, kaum ändern. Und man fragt sich, was man lieber hat: journalistische Schonkost, Weniges aber manchmal doch Wesentliches; oder die ausführliche, variantenarme Beschreibung einer am Fussball orientierten Scheinwelt.
Parelellwelt
Mächtig ist der Fussball, dürftig sein Jargon.