Der syrische Hohe Verhandlungsrat (NHC), von dem man schon lange nichts mehr gehört hatte, traf am Mittwoch in London mit den Aussenministern der zehn Staaten und der EU zusammen, die sich die „Freunde Syriens“ nennen. Die USA, Frankreich, Deutschland, Grossbritannien, Italien, Saudi Arabien, die VAE, Qatar, Jordanien, die Türkei sowie die EU gehören dazu.
Der syrische Verhandlungsrat, spricht für die sogenannte „gemässigte“ Opposition gegen das Asad-Regime, das heisst Kampfgruppen und Exilparteien, soweit sie nicht zu den jihadistischen Radikalen gehören, die ein demokratisches Regime für Syrien ausschliessen. Der Rat hat ein Dokument zusammengestellt, in dem er darlegt, wie er sich den Übergang Syriens aus dem Krieg zu einem erhofften demokratischen Regime vorstellt.
In drei Stufen zur erhofften Demokratie
Es handelt sich, wie er sagt, um einen „umfassenden exekutiven Rahmen“. Dieser sieht einen dreistufigen Übergang vor. Die erste Phase wäre ein Waffenstillstand von sechs Monaten mit der Rückkehr der Millionen von Flüchtigen nach Syrien und der Freilassung aller politischen Gefangenen. Während dieser Zeit müssten Verhandlungen zwischen dem Asad Regime und der Opposition stattfinden, welche die Einzelheiten des weiteren Übergangs festlegten.
Die zweite Phase wäre eine Übergangszeit von 18 Monaten unter einer Übergangsregierung – ohne Asad und seine engsten Vertrauten. Sie hätte während der 18 Monate die Macht über Zivile und Militärs auszuüben. Sie hätte die staatlichen Institutionen zu bewahren, die Einheit Syriens abzusichern, Demokratie, Brüderlichkeit und Gleichheit und bürgerliche Verantwortung zu fördern. Dabei sollten alle Syrer beteiligt werden, auch die Rechte der Kurden seien zu respektieren. Ein Verfassungsvorschlag in diesem Sinne wäre auszuarbeiten.
Die Schlussphase würde sodann Wahlen unter Aufsicht der Uno durchführen, um mit einer gewählten demokratischen Regierung zu enden.
Die Realität ist sehr anders
Der Plan wirkt natürlich angesichts der syrischen Realität wie ein schöner Traum. Die Realität sieht ganz anders aus. Ost-Aleppo wird wieder voll belagert und beständig schwer bombardiert, nachdem die syrische Armee die Lücke im Belagerungsring wieder geschlossen hat, welche die Widerstandskämpfer Ende August vorübergehend geöffnet hatten.
Dabei hatten die Kämpfer der einstigen Nusra, der heutigen Eroberungs-Front, die führende Rolle gespielt. Diese Front gehört nicht zu den Kräften, für welche der Hohe Verhandlungsrat spricht. Sie wird zusammen mit dem IS als „terroristisch“ eingestuft und gilt den Amerikanern, den Russen, den Saudis, Iran und allen anderen „Freunden Syriens“, sowie auch dem Asad-Regime selbst als ein Feind, der niedergekämpft werden muss.
Die Front ist jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach zusammen mit dem IS die stärkste der Kampfgruppen, die gegen Asad im Felde stehen. Jene Kampfgruppen, für die der „Hohe Verhandlungsrat“ spricht, arbeiten mehr oder weniger notgedrungen mit der Front zusammen, wo diese gegen die Asad-Armee und deren internationale Verbündete (Russland, Iran, Hizbullah aus Libanon und andere pro-schiitische Milizen aus dem Irak und aus Afghanistan) im Kampf steht.
Doch wieder Einsatz von Gas
Zu den Realitäten gehört auch: Nach den jüngsten Meldungen hat die Regierung im Lauf der Bombardierungen von Aleppo auch Chlorgas eingesetzt, etwa 100 Zivilisten in der Vortadt Sukkari wurden dadurch verletzt, darunter zahlreiche Kinder. Es ist nicht das erste Mal, dass Aleppo solche Angriffe erlitt. Im August war nach Angaben der lokalen Rettungskräfte ein ähnlicher Chlorgas-Angriff in Aleppo vorausgegangen, und die internationalen Behörden hatten zwei Chlor-Angriffe auf Gebiete der Rebellen sowie auch zwei solche, die von den Widerstandsgruppen ausgegangen seien, bestätigt. Die Russen allerdings hatten sich geweigert, die vorgelegten Beweise anzuerkennen. Sie warfen umgekehrt den Rebellen Gasangriffe vor.
Die gefährlicheren eigentlichen Kampfgase, wie Sarin, waren nach dem brutalen Gasangriff in der Ghuta von Damaskus vom 21. August 2013 aus Syrien entfernt worden. Doch Chlor war davon ausgenommen, weil diese Chemikalie auch friedlichen Zwecken dient, z. B. der Desinfektion von Wasser.
Mittelalterliche Belagerungsmethoden
Alle Versuche der internationalen Diplomatie, Nahrung und Medizin in die belagerte Stadt Aleppo zu bringen, fruchteten nichts. Die syrische Regierung, gestützt von ihren russischen und iranischen Freunden, verweigert die Nothilfe, nicht nur für die über 200'000 Bewohner von Ostaleppo sondern auch für – nach Uno Schätzungen – rund 400'000 andere Zivilisten, die in verschiedenen Ortschaften Syriens meist von den Regierungstruppen blockiert und belagert werden.
Auch die Rebellen führen einige vergleichbare Belagerungen von pro-Regierungsortschaften durch. Damaskus gebraucht diese „mittelalterlichen“ Methoden, um nach Monaten, manchmal Jahren, des Aushungerns die Kapitulation der hungernden Bevölkerung zu erzwingen. Dies ist kürzlich in Daraya geschehen, einer einst volksreichen Vorstadt von Damaskus – nach fünfjähriger, aushungender Belagerung.
Die Türkei wird auch Kampfpartei
Gleichzeitig stehen neuerdings türkische Tanks in Syrien. Sie kämpfen gegen die syrischen Kurden, weil die Türkei vermeiden will, dass diese Kurden ein autonomes Gebiet an ihrer Grenze errichten. Auch der IS, dem die Türkei Jahre lang unter der Hand geholfen hatte, gehört nun zu den offiziellen Kampfzielen Ankaras – teils wohl, weil er seine Selbstmord-Bombenanschläge auch in der Türkei durchzuführen begonnen hat, teils aber wohl auch, um die Amerikaner zu beruhigen, die mit den syrischen Kurden zusammenarbeiten, weil diese die tüchtigsten Kämpfer gegen den IS abgeben.
Es ist jedoch klar: Je mehr die syrischen Kurden in Kämpfe mit den Türken verwickelt werden, desto weniger hat der IS ihren Druck zu befürchten.
Unübersichtlicher Einsatz von Oppositionsgruppen
Der Rest von Syrien ist nach wie vor aufgeteilt in Gebiete, in denen die Regierung herrscht, wo jedoch, wie kürzlich erneut erwiesen, der IS in der Lage ist, Bombenaschläge durchzuführen. In verschiedene Zonen stehen unterschiedliche Oppositionsgruppen. Unter diesen sind offensichtlich die radikalsten, die mächtigsten und erfolgreichsten der IS im Osten Syriens, sowie anderseits die Eroberungs-Front (früher Nusra) mit ihren Verbündeten, welche zusammen die Provinz Idlib halten. Diese Gruppen wiederum stehen unter beständigem Bombenregen der syrischen Regierung, der Russen und auch der Amerikaner.
Zahlreiche andere Kampfgruppen sind in Syrien aktiv: Nach wie vor in der Nähe der Hauptverbindungsachse, die von Damaskus nach Aleppo führt; im Wüstenraum nordöstlich und südwestlich von Palmyra; im Umfeld von Damaskus; im Süden des Landes nah an der jordanischen Grenze und der israelischen Waffenstillstandslinie.
Bombenleger im Untergrund
Die Asad-Regierung, gestützt von den Russen und von Iran, macht Fortschritte gegen den Widerstand. Sie muss jedoch damit rechnen, dass überall dort, wo der bewaffnete Aufstand gebrochen wird, die Bombenleger ihr blutiges Werk aus dem Untergrund fortsetzen werden. Wie man es gegenwärtig in Homs erlebt.
Die Stadt, einst eine Hochburg des Widerstandes, ist seit Ende 2015 vollständig „gereinigt“. Damals wurden die letzten Widerstandgruppen aus den letzten von ihnen gehaltenen Stadtquartieren von Homs nach einem Kapitulationsabkommen evakuiert. Doch seither hat es immer wieder Bombenanschläge in den von den Anhängern der Regierung bewohnten Stadtteilen gegeben.
Der Wert einer Utopie
Natürlich kennen die seit Jahren exilierten Politiker der syrischen Opposition die wahre Lage in ihrem Land nur zu gut. Sie wissen, dass ihre hoffnungsvolle Zukunftsvision kaum Chancen hat, auch nur teilweise zu verwirklicht zu werden. Dennoch haben sie einen detaillierten Plan entworfen, der zeigen soll, was möglich wäre und was eigentlich sein müsste, wenn nur alle Seiten vernünftig kollaborieren wollten.
Der Zweck ihres Entwurfes dürfte in erster Linie sein, zu unterstreichen, dass ein Syrien „ohne Asad“ nicht notwendigerweise einen zerbrochenen Staat Syrien bedeuten müsste. Dies richtet sich gegen die Russen und ihre Sicht, nach der ein „Regime change“ (ein Wechsel in der Regierungsverantwortung) notwendigerweise den Zerfall des syrischen Staates mit sich bringen müsse.
Die Russen können darauf hinweisen, dass solche „Regime changes“ im Jahre 2003 im Irak, 2011 in Tunesien, in Ägypten, im Jemen, in Bahrain, in Libyen, in Syrien versucht wurden. Mit der einen Ausnahme von Tunesien stets mit katastrophalen Resultaten. Der Plan der syrischen Opposition soll verdeutlichen, dass das nicht so sein müsse und ein „Regime change“ ohne Staatszerfall möglich sei.
Geringe Realisierungschancen
Freilich, weder Asad noch die Russen werden sich davon überzeugen lassen. So schön die Planung sich ausnehmen mag, setzt sie doch Grundlagen voraus, die man nur zu leicht anzweifeln kann. Vorgesehen sind sechs Monate Waffenstillstand, jedoch die bisher ausgerufenen Waffenstillstände oder „Kampfpausen“ haben keine 24 Stunden gedauert.
In diesen sechs Monaten des erhofften Waffenstillstands müsste ein Machtwechsel stattfinden (doch ein „Regime change“) der beinhaltete, dass Asad und seine Mitverantwortlichen die Macht an eine Übergangsregierung abträten. Asad hat immer gesagt, das gedenke er nicht zu tun. Dies sogar in den Tagen, als seine Macht zu wanken drohte – Zeiten, die heute dank der russischen Luftwaffe vergangen sind.
Russisches Interesse am Weiterreden
Die Russen deuten in ihren Gesprächen mit den Amerikanern manchmal an, dass ihr Eintreten für Syrien nicht notwendigerweise an die Person Asads gebunden sei. Doch diese Andeutungen dienen wohl nur als ein diplomatischer Lockvogel, dazu bestimmt, den Amerikanern nicht alle Hoffnung darauf zu nehmen, dass eine Verhandlungslösung in Syrien möglich sei – und in der Zwischenzeit die Sache Asads zu fördern.
Mentalitätswechsel in Syrien wäre die Voraussetzung
Nach dem Plan soll die Übergangsregierung Bürgertugenden „fördern“ – wie Brüderlichkeit, Gleichheit, demokratische Gesinnung. Doch was wird sein, wenn diese „Förderung“ schwierig wird oder sich als undurchführbar erweist, weil der Hass in den vergangenen Bürgerkriegsjahren zu weit hochgetrieben wurde? Eine verlängerte Übergangszeit?
Der schöne Plan setzt einen Mentalitätswechsel voraus, der nicht nur die Starrheit der heutigen Kampfgruppen und Fronten in Toleranz und Konzilianz zu verwandeln hätte. Er müsste auch die politischen Härten und Spaltungen überwinden, die sich schon vor dem Bürgerkrieg auf die syrische Politik auswirkten, nicht erst seit Asad, Vater und Sohn, die beide zusammengenommen in den letzten 46 Jahren diktatorisch regierten, sondern schon davor, seit kurz nach der syrischen Unabhängigkeit vom Jahr 1946, als die syrischen Militärs drei Jahre später zum ersten Mal putschten.
Alternativ-Entwürfe zu Asads Herrschaft
Der Sinn der vorgelegten Pläne dürfte zum guten Teil darin liegen, dass die Exilpolitiker und ihre noch in Syrien verweilenden und kämpfenden Gesinnungsgenossen beabsichtigten, der russischen formalistischen und zynischen Haltung ein Gegenbild entgegenzusetzen. Wenn die Russen behaupten, Asad sei die Legalität und als solche die einzige realistische Barriere gegenüber dem Chaos in Syrien, geht es dem Verhandlungsrat darum, aufzuzeigen, dass ein Syrien ohne Asad nicht notwendigerweise ein chaotischer und in sich zusammengebrochener Staat werden muss. Wenn nicht die Wirklichkeit, so doch mindestens die Vision eines anderen Syriens wollen sie der Zerfallsprophezeihung entgegenstellen.
Wenn die Aussenminister der „Freunde Syriens“ sich bereit zeigen, diese alternative Vision zur Kenntnis zu nehmen, grenzen sie sich damit von Russland ab. Die Dauergespräche, die von den USA mit Russland über Syrien geführt werden, geschehen offenbar „faute de mieux“. Irgendetwas muss geschehen oder mindestens vor sich gehen angesichts der unhaltbaren Zustände in Syrien, gerade weil die „Freunde Syriens“ nicht gewillt sind, blutig in Syrien einzugreifen. Solange über Syrien diplomatische Gespräche geführt werden, bleibt doch ein Fünkchen Hoffnung wach, dass der Bürgerkrieg schlussendlich einmal zu Ende gebracht werden könnte.
Die russische Perspektive
Den Russen liegt offenbar daran, dieses Fünkchen nie völlig erlöschen zu lassen. Verständlicherweise, denn solange es glüht, ist die Gefahr geringer, dass den Amerikanern oder anderen Nato-Mächten die Geduld reissen könnte und sie sich dann doch noch entschlössen, energischer in Syrien einzugreifen. Sei es direkt, so unwahrscheinlich dies sein dürfte, sei es mehr indirekt durch die Lieferung besserer Waffen an den Widerstand.
Dies würde vor allem „manpads“ betreffen, Schulter getragene Einmann-Raketen, die dazu dienen könnten, russische Flugzeuge abzuschiessen. Man kann sagen, aus der russischen Perpektive helfen die Syrien-Gespräche mit, der russischen Luftwaffe ihr Machtmonopol am syrischen Himmel aufrechtzuerhalten und das Risiko zu verringern, dass „die Freunde Syriens“ wirksam dagegen einschreiten.
Kein „Plan B“ der Amerikaner
Auch von der amerikanischen Seite her, haben die Gespräche ihren Nutzen. Sie kommen immer wieder einer Lösung nahe, wenn sie sie dann auch nie ganz zu erreichen scheinen. Das hilft mit zu begründen, dass man wenig anderes unternimmt. Die Lösung kommt ja, sie scheint beinahe erreicht. Also muss man keine Alternativen erwägen, nicht zu einem „Plan B“ greifen, zu dem man ohnehin nicht gerne greifen möchte.
Der „umfassende exekutive Rahmen“ der syrischen Opposition gehört in diesen Zusammenhang. Damit wird versucht, die Diagnose der Russen zu entkräften, die lautet: entweder Asad oder das Chaos. Indem dieser Plan von der Möglichkeit spricht, dass nach und ohne Asad das Chaos gebändigt werden könnte. Er sucht dadurch den westlichen Gesprächspartnern der Russen ein Argument in die Hand zu spielen.
Es wirkt zwar vermutlich nicht schwer in den Augen der Russen, doch möglicherweise stärkt es doch immerhin die Entschlossenheit ihrer diplomatischen Gegenspieler, der „Freunde Syriens“, so dass sie den Russen nicht ganz ohne eigene Argumente und Zukunftsaussichten für Syrien entgegentreten.