Die Meerenge von Malakka, von der Nordwestspitze Javas bis nach Singapur, ist der am stärksten befahrene Transportweg der Weltschifffahrt. Jährlich verkehren 84’000 Schiffe in der Strait of Malakka, beladen mit rund einem Drittel aller international gehandelten Güter. Der weitaus grösste Anteil sind Erdölprodukte, gefolgt von weiteren Rohstoffen und Industriegütern.
Die Abkürzung
Ein Blick auf die Karte macht deutlich, dass just auf gleicher Höhe wie der Eingang zur Wasserstrasse, nur einige Längengrade weiter östlich, eine Landenge liegt. Es ist die Verengung des südostasiatischen Zipfels, der sich vom Himalaya bis tief in den Indischen Ozean schiebt. An seiner schmalsten Stelle ist sie hundert Kilometer breit.
Dieser Isthmus liegt auf thailändischem Gebiet. Sein Durchstoss würde es Schiffen in Richtung Fernost erlauben, bei der Südspitze von Vietnam wieder in den Transportweg zwischen Singapur und China, Japan und Korea einzubiegen. Auf dem Weg von und nach dem Mittleren Osten und dem Suezkanal hätten sie damit rund 1’200 Kilometer Fahrdistanz eingespart.
Gigantischer Kanal
Die topographisch günstigste Stelle für einen Kanal liegt in der Region von Kra, knapp südlich der Grenze zu Myanmar und etwas nördlich von Phuket im Westen und der Insel Kosamui im Osten des Isthmus. Es ist daher verständlich, dass gerade in Thailand schon lange über die Möglichkeit eines „asiatischen Suezkanals“ spekuliert wird.
Erste Ideen und Pläne gehen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Im 19. Jahrhundert scheiterte ein britisches Projekt an mangelndem Kapital. Die japanische Regierung spielte in der Zeit seiner imperialen Expansion nach Südostasien mit der Idee eines gigantischen Kanals. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste sich Thailand auf Druck Grossbritanniens verpflichten, auf einen Kanalbau zu verzichten, um die Bedeutung Singapurs nicht zu gefährden.
Dennoch halten sich bis heute Träume und Pläne, gerade unter den Thais. Sie rechnen damit, dass ein solches Werk die wirtschaftliche Bedeutung des Landes schlagartig erhöhen würde. Die enormen Kosten von geschätzten dreissig Milliarden USD sind allerdings ein ständig wiederkehrender Stimmungsdämpfer.
Chinas Ambitionen
Spekulationen kamen wieder hoch, seitdem sich abzeichnet, dass die Malakka-Strasse die ständig wachsende Flotte von Handelsschiffen langsam aber sicher nicht mehr aufnehmen kann. Gemäss einem Bericht im indischen „Business Standard“ rechnet die Weltbank damit, dass der Transitverkehr in zehn Jahren auf 140’000 Schiffe anwachsen wird, weit über der geschätzten Kapazität von 122’000.
Und nun hat sich im geopolitischen Kräftespiel plötzlich ein Akteur nach vorne geschoben, der sich weder von Kosten noch von politischem Widerstand abschrecken lässt, wenn es um Weltmacht-Ambitionen geht: China.
Schon seit Jahren antichambrieren chinesische Infrastrukturfirmen in Bangkok. Und jetzt ist es offiziell: Der Kra-Kanal steht auf der Liste der sogenannten Obor-Projekte, wobei Obor für „One Belt One Road“ steht. Damit verbindet sich der gigantische Infrastruktur-Plan, den China vorfinanzieren und möglichst gleich selber ausführen will.
Geopolitisches Scharnier
Mit Obor will das Reich der Mitte seine politische Dominanz über die Nachbarschaft ausweiten und diese wirtschaftlich untermauern. Obor soll entlang mehrerer kontinentaler Landwege Mittelost und Europa erreichen und mit einer Reihe von Seewegen bis tief in den Pazifik und den Indischen Ozean ausgreifen.
Der wichtigste Obor-Seeweg wird nun zweifellos jener, der China gleichzeitig mit seinen wichtigsten Rohstoffquellen im Mittleren Osten und seinem zweitwichtigsten Absatzmarkt – Europa – verbindet. Nichts zeigt dies deutlicher als der (teilweise bereits vollzogene) Aufbau von Inseln im Südchinesischen Meer und die Erstellung von Häfen in Myanmar, Sri Lanka, Pakistan und Djibouti.
Der Kra-Kanal ist das geopolitische Scharnier, das beide Meeresteile und deren Brückenköpfe verbindet. Er böte zudem weitere Vorteile für China: Chinesische Schiffe, auch solche der Kriegsmarine, kämen nicht in Gefahr, in der Malakka Strait von den Anrainerstaaten – alle verbündet mit den USA – an der freien Passage gehindert zu werden.
Politische Hürfen
Im Gegenteil: Mit einer eigenen Kanalregion gewänne China einen weiteren Brückenkopf. Denn an deren westlichem und östlichem Zugang will es künstliche Inseln bauen, mit Umschlaghäfen, Lager-Anlagen, Tourismus-Resorts und Wohnsiedlungen; zum Beispiel für die 30’000 chinesischen Arbeiter, die den Kanal bauen und sich dann gleich auch dort niederlassen könnten.
Da nur China ein solches Unternehmen vorfinanzieren kann, wird Beijing zweifellos darauf pochen, für die Kanalregion ein (völker)rechtliches Sonderstatut einzuhandeln, mit einer weitgehenden Autonomie gegenüber dem thailändischen Staat.
Doch gerade hier erwachsen dem ambitionierten Obor-Vorhaben allmählich erste, und immer höhere politische Hürden. Zunächst in Thailand selber. Niemand hat dort vergessen, dass die beiden historischen Vorbilder – Suez und Panama – den Grossmächten England und USA zwar die Konsolidierung ihrer Weltmachtambitionen gesichert hatten. Für die betroffenen Regionen war aber ein hoher Verlust damit verbunden: Sie wurden Klientel-Staaten der imperialen Erbauer.
Eingriff in die Natur
In Thailand hat sich eine „Thai Canal Association“ unter der Führung von Ex-Generälen gebildet, die historische Vorbilder aus der Zeit des Imperialismus und Kolonialismus als nicht stichhaltig einschätzt. Im Gegenteil, der Bau einer Freihandelszone rund um den Kanal und eines internationalen Flughafens würden in ihren Augen gerade die wirtschaftliche und damit auch die politische Kraft des Landes stärken.
Dennoch hat sich die Regierungsjunta bisher nicht festlegen lassen. Und es gibt offenbar auch Kritiker, die finden, dass die beiden wichtigsten Export-Einnahmequellen Thailands – Fischerei und Tourismus – in dieser Gegend lokalisiert sind und von diesem massiven Eingriff in die Natur betroffen werden könnten.
Strategische Bedenken
Auch in Indien nimmt die Sorge um dieses Vorhaben zu. Zwar könnte es auch von einer Ausweitung des Schiffsverkehrs in seinem Hoheitsgebiet profitieren. Denn nach der Passage durch den Kra-Kanal würden die Schiffe zwischen den indischen Inselgruppen der Andamanen und Nikobaren navigieren, bevor sie Richtung Süden abdrehen, um Sri Lanka und Südindien zu umfahren.
Abgesehen von ökologischen überwiegen die strategischen Bedenken. Mit dem Kanal hätte Beijing einen direkten Anschluss an das Südchinesische Meer. Zusammen mit diesen Nachschublinien und den bereits etablierten Marine-Stützpunkten könnte Beijing damit auch im westlichen Teil des Indischen Ozeans eine ständige Marine-Präsenz unterhalten.
Indiens Unschlüssigkeit
Erst jüngst hat China aus indischer Sicht dieses strategische Ziel einmal mehr offen gelegt – auf den Malediven. In einem staatsstreichartigen Putsch von oben hatte das Regime den Ausnahmezustand erklärt und die demokratischen Institutionen weiter ausgehöhlt. Es setzte ihn gegen den ausdrücklichen Willen Delhis durch, wohl wissend, dass China (zusammen mit Pakistan) ihm dabei den Rücken stärkt. Laut maledivischen Oppositionskreisen hat die Regierung China mehrere Inseln zur langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung angeboten.
Delhi hat auf die Herausforderung des kleinen Insel-Nachbars hilflos reagiert, genauso wie bei den Obor-Projekten vor seiner Haustür – in Bangladesch, Nepal, Sri Lanka und Pakistan. Es scheint unschlüssig, ob es eine „realistische“ Haltung einnehmen soll, welche den Hegemonie-Anspruch Beijings schluckt. Oder ob es konfrontativ auftreten soll, zum Beispiel im Rahmen der indo-pazifischen Quad-Gruppe.
Chinas Vorteil
Im Gegensatz zu den andern Mitgliedern USA, Japan und Australien ist es der einzige territoriale Frontstaat gegenüber dem gemeinsamen Widersacher China. Damit könnte es aber leicht zum Bauernopfer werden, gerade in den Händchen von Donald Trump, der einen Allianzpartner ohne weiteres fallen lassen würde, wenn es um „America First“ geht.
Bald könnte also Indien das Malakka-Dilemma erben, das der frühere Staatschef Hu Jintao für China ausgemacht hatte – Zwang zu Kooperation oder Alleingang? Dies zeigte sich letzten Sommer im Himalaya, als China das Doklam-Tal besetzte, obwohl es von Bhutan beansprucht und verwaltet wird.
Damals setzte Delhi erfolgreich eine militärische Red Line, und Beijing unterbrach seinen „bewaffneten Strassenbau“. Doch Baumaschinen und Armee-Lastwagen stehen immer noch fahrbereit im Tal. Und Delhi macht sich keine Illusionen, dass China militärlogistisch am längeren Hebel sitzt. Indiens Rote Linie könnte rasch durch die Rote Fahne abgelöst werden.