Wenn einmal die Geschichte der Corona-Pandemie geschrieben wird, werden in ihr auch die Virus-Verneiner vorkommen müssen. Es wird ein Steckbrief gegen alle jene Politiker sein, die so lange gegen die letale Evidenz des Coronavirus kämpften, bis sie selbst fast umfielen.
Liga der Leugner
Nicht nur Trump und Lukaschenko gehören dazu, nicht nur Johnson und Erdogan und Putin und Shinzo Abe. Auch Pakistans Premierminister Imran Khan steht dort ein Ehrenplatz zu. Auch er gehört zu jener Spezies Polit-Machos, die auch diese Virusinfektion lange als Kinderkrankheit ansahen, denen sich Mütter widmen müssen, aber doch nicht ein Mann.
Dabei hätte Khan gewarnt sein müssen. Pakistan unterhält, wie so viele andere arme Länder, eine strategische Partnerschaft mit China. Sie reicht von Nuklearlieferungen und Waffengeschäften über Geheimdienst-Infos über Exil-Uiguren bis zu den zahlreichen Infrastrukturprojekten der Initiative „One Belt One Road“ (OBOR). Es beherbergt eine grosse Kolonie chinesischer Arbeiter, und der rege Austausch schliesst auch den Informationsfluss zwischen beiden Ländern ein.
Ignorierte Warnsignale
Schon früh gab es daher Berichte über den Ausbruch der Epidemie in Wuhan, und bereits Mitte Januar wurde in einer Lagebeurteilung der Regierung die Frage erörtert, ob Handlungsbedarf bestand. Sie wurde verneint. Und die Entwicklung schien ihr Recht zu geben. Während sich jenseits der Grenzen die Epidemie zur Pandemie ausbreitete, wurde in Pakistan bis Ende Februar kein einziger Covid-19-Fall registriert.
Die erste Infektion wurde am 26. Februar festgestellt – kein Grund zur Panik also. Auch der erste Todesfall Anfang März in einem Dorf der Provinz Sindh, liess bei Imran Khan keine Alarmglocken läuten, obwohl beim Opfer, einem älteren Bauern, keine Verbindung nach aussen festgestellt werden konnte.
Dann begann in den anderen südasiatischen Ländern die Zahl von Coronavirus-Infizierten erstmals markant zu steigen. In Indien bewog dies Premierminister Narendra Modi, eine Skype-Konferenz der Regierungschefs der sieben SAARC-Staaten vorzuschlagen. Sie fand am 15. März statt. Imran Khan hielt es nicht für nötig, sich dazu zu schalten; er liess sich durch einen drittrangigen Ministerialbeamten vertreten.
Zögern und Verzögerung
Khan lehnte auch die immer lauteren Forderungen der Provinzen nach einem Lockdown hartnäckig ab. Ähnlich wie sein mexikanischer Amtskollege Lopez-Obrador argumentierte er, ein wirtschaftlicher Stillstand würde das Land ruinieren, namentlich die Armen. Zudem bewege sich die Zahl der tödlichen Opfer immer noch auf tiefer Stufe – weit unter hundert.
Khans Zögern war nicht nur dem „Macho-Effekt“ geschuldet. Ein Seitenblick auf den ewigen Rivalen Indien zeigte ihm, was der Lockdown durch Narendra Modi bewirkt hatte: Ein Exodus von Millionen Arbeitsmigranten, mit dem Potential einer Massen-Ausbreitung des Virus bis tief ins Hinterland. Doch während Modis Popularität das politische Nachbeben dieses drastischen Entscheids abfederte, musste sich Khan wohl eingestehen, dass es seinen eigenen Thron zum Einsturz bringen könnte.
Kurswechsel
Modis Schocktherapie für Indien gab auch der pakistanischen Machtelite einen Ruck. Denn kaum hatte er für den 25. März den Lockdown angekündigt, nahm jenseits der Grenze die Armee das Zepter in die Hand – ohne Abstimmung mit Khan. Die militärisch kontrollierte „National Disaster Management Authority“ (NDMA) verband sich mit den Provinzregierungen. Prompt verordneten diese über den Kopf des Premierministers hinweg weitgehende Stillstandsmassnahmen. Khan hatte keine Wahl, bei den zentralstaatlichen Dienstleistungen – etwa dem Eisenbahnnetz – nachzuziehen.
Zudem einigte sich nun das Kabinett im Eiltempo auf ein Hilfspaket von umgerechnet 12 Milliarden Dollar zur Corona-Bekämpfung. Khan bat die internationale Gemeinschaft um 3,7 Milliarden Dollar Hilfsgelder. Zusätzlich erbat er den Erlass von Schulden und weitere Stundungen. – Pakistans internationale Verschuldung ist mit 94 Prozent beinahe so hoch wie sein Wirtschaftsprodukt. Wie hilflos die unmittelbaren Massnahmen waren, zeigte Khans Lancierung eines Freiwilligen-Korps mit dem Namen „Corona Relief Tigers“.
Immerhin – er hatte endlich den Ernst der Lage erkannt. Es war höchste Zeit. Denn mit einem Mal schossen die Krankheitszahlen – zum Glück von einer sehr tiefen Basis – in die Höhe. Einmal mehr waren es religiöse Ansammlungen und Pilgerbewegungen, die zuerst als gefährliche Infektionsherde festgestellt wurden. Es waren 124 schiitische Pilger, die Ende Februar aus Iran zurückgekehrt waren, ohne getestet worden zu sein.
Infektionsherde
Noch verhängnisvoller war – wie im gleichen Zeitraum in Delhi – eine Zusammenkunft der missionarischen Tablighi-Bewegung. Im Unterschied zu Indien umfasst im islamischen Staat Pakistan die Zahl der Teilnehmer an dieser jährlichen Kongregation nicht Tausende; in der Stadt Raiwind, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Millionenstadt Lahore, sind es jeweils Hunderttausende, die sich dort versammeln.
Dank Appellen der Provinzregierung und der NDMA (sprich: der Armee) konnte die Teilnahme in diesem Jahr auf 80’000 Personen gesenkt werden, darunter 3’000 aus vierzig weiteren Ländern. Die Konferenz wurde von sechs auf drei Tage verkürzt und die ganze Stadt unter Quarantäne gestellt.
Dennoch konnte nicht verhindert werden, dass sich die beiden Herde in Belutschistan (an der Grenze zu Iran) und im Punjab rasch ausbreiteten. Von der offiziellen nationalen Gesamtzahl von knapp 6’000 Infizierten und über hundert Toten (Stand Mitte April) sollen mehr als siebzig Prozent aller Erkrankten aus diesen beiden Herden stammen.
Dabei wird nun auch anerkannt, dass diese Zahlen das Ausmass der Infektionen nicht korrekt wiedergeben; wie in anderen Ländern – namentlich in Indien – spiegeln sie lediglich die geringe Zahl von Covid-19-Tests. Und wie im Nachbarland dürften die Zahlen in den nächsten Wochen rasch steigen, sobald mehr Test-Kits zur Verfügung stehen. China hat sie ihrem Partner kostenfrei bereitgestellt, konnte sie aber noch nicht ausliefern. Es ist ein Ausdruck der landesüblichen bürokratischen Lethargie, dass Frachtflüge bis zum letzten Sonntag weiterhin dem allgemeinen Flugverbot unterstellt blieben.
Ambitionierte Ziele
Die Zielvorgabe von 100’000 Untersuchungen pro Tag ist dagegen ambitiös. Es ist allerdings ein Rätsel, wie die 26 Laboratorien, viele von ihnen noch nicht aufgerüstet, einen solchen Output bewerkstelligen sollen. Aber selbst wenn das Testziel erreicht wird, wird es kaum genügen für ein Land, das mit 220 Millionen Einwohnern die fünftgrösste Bevölkerungszahl der Welt ausweist.
Das ökonomische Profil Pakistans ist – mit 24 Prozent der Bevölkerung offiziell unter der Armutsgrenze – jenem Indiens ähnlich. Im Unterschied zu seinem Nachbarn weist es aber ein grosses Defizit an demokratischen Institutionen auf. Dies betrifft vor allem die Basisdemokratie der Dörfer, Städte und Bezirke. Indiens Primary Health Centres sind zwar sträflich unterdotiert; dennoch gibt die Verfassung den Dorf- und Bezirksräten eine gewisse finanzielle Autonomie und damit operationellen Freiraum und Selbstverantwortung.
Mangelnde Entschlusskraft
Pakistans Provinzen sind in jüngster Zeit gegenüber dem Zentralstaat durch einen neuen Verfassungszusatz gestärkt worden. Premierminister Khan beklagt sich darüber, dass ihm die Hände gebunden seien, wenn er gegen den Willen der Teilstaaten eine nationale Strategie gegen den Corona-Notstand durchsetzen will.
Für Dörfer und Bezirke bedeutet diese Föderalisierung aber bloss, dass es nun die Provinz-Hauptstadt ist, die sich gegen sie durchsetzt. An ihrer Basis ist die demokratische Autonomie im Lauf der Jahrzehnte mit den häufigen Perioden von Militärherrschaft weitgehend verkümmert.
Diese institutionelle Blockade leistet dem Schwanken des Premierministers zwischen Lockdown und Laissez-faire zusätzlichen Vorschub. So erstaunt es nicht, dass die Medien das grösste Manko in der Virus-Bekämpfung nicht in fehlenden Test-Kits, Notfallbetten und – besonders dramatisch – Schutzkleidungen des Personals ausmachen. Es ist die mangelnde Entschlusskraft der staatlichen Institutionen, die sie als ärgsten Schwachpunkt identifizieren. Auch hier gleicht Imran Khan den internationalen Polit-Machos: Muskelpakete, die an das Michelin-Männchen erinnern.