Pakistan hat eine Schreckenswoche hinter sich. An vier aufeinander folgenden Tagen kam es in allen vier Provinzen zu Bombenexplosionen, die über einhundert Menschenleben forderten. Die schlimmste ereignete sich am Donnerstag in einem Sufi-Schrein in der Provinz Sindh. Dem Selbstmordanschlag fielen bis heute 83 Menschen zum Opfer, mit mehr als doppelt so vielen Verletzten.
Wahhabistische Ideologie
Die Wahl von Ort und Zeit legen das Motiv der Tat frei. Am Donnerstagabend, vor dem Beginn des wöchentlichen „Gottestags“, versammeln sich in den zahlreichen Grabstätten islamischer Mystiker viele Leute, deren Gebet die Form eines tranceartigen Tanzes zum Rhythmus von Trommeln annimmt. Die Augen geschlossen, strecken die Tanzenden eine Hand mit dem gestreckten Zeigefinger in der Luft, als triumphierendes Zeichen der direkten Kommunion mit dem Einen.
Der Wahhabismus, die sektiererische Ideologie des islamischen Terrors, lehnt jede Verehrung eines Erinnerungsmals, etwa in Form einer Grabstätte, als Blasphemie ab, da einzig Allah angebetet werden darf. Nur unmarkierte Gräber sind zugelassen. Und es ist ihren Anhängern ein Greuel, dass auch Frauen zu diesen Dargahs zugelassen sind. Für diese ist es oft der einzige Ort, wo sie öffentlich und unverschleiert ihrer Gottesverehrung Ausdruck geben können. Und dass in diesen Schreinen auch Christen, Sikhs und Hindus beten, betrachten sie vollends als Besudelung der Religion.
Staatliche Rache
Die pakistanische Regierung machte Terrornetzwerke „jenseits der Grenze“ für die Anschläge haftbar, und die Armee bestellte den afghanischen Geschäftsträger gleich in ihr Hauptquartier in der Garnisonsstadt Rawalpindi, diplomatisches Protokoll hin oder her. Gleichzeitig erklärte sie ein weiteres Mal allen Extremisten den Krieg. In zahlreichen Razzien wurden innert 24 Stunden über hundert Verdächtige erschossen und zahlreiche von ihnen in Haft genommen.
Es war ein Rundumschlag der Rache, der gar nicht so sehr auf die Tatverdächtigen zielte. Die blitzschnelle Reaktion war auch ein stilles Eingeständnis, dass es in Pakistan von militanten Organisationen nur so wimmelt. Pakistans Armee-Geheimdienst ISI hat auch keine Mühe, sie zu identifizieren, da viele von ihnen klammheimlich vom Staat finanziert werden.
Spiel mit dem Feuer
Die zahlreichen Suizid-Anschläge auf zivile Ziele und der entsprechend hohe Blutzoll sind ein weiterer Beweis, dass die kaltblütige Strategie des Regimes nicht aufgeht. Radikale Gruppen gegen Feinde im Osten (Indien) und im Westen (Afghanistan) einzusetzen ist eines; sie davon abzuhalten, in die Hand zu beissen, die sie füttert, etwas ganz anderes.
Das Spiel mit dem Feuer begann (mit Saudiarabien und den USA als partners in crime) in den achtziger Jahren mit den Mudschaheddin in Afghanistan, die „Freiheitskämpfer“ waren, weil sie die sowjetischen Invasoren vertreiben wollten. Es folgten die Taliban, die Pakistans Einfluss im Nachbarland sicherstellen sollten. Und Gruppen wie Jash-e-Mohammed und Lashkar-e-Tayba wurden grossgezogen, weil sie im unerklärten Krieg gegen Indien als „Befreiungskrieger“ eingesetzt werden konnten.
Angebliches Bollwerk gegen Terror
Mit der bedrohlichen Ausbreitung des Islamischen Staats sieht Pakistan eine weitere Gelegenheit, die internationale Kritik gegen diese Terrorstrategie des Staats zu unterlaufen. „Unsere“ afghanischen Taliban sowie Jaish und Lashkar sind, so die Sprachregelung, die einzigen, die dem IS in Afghanistan und in Pakistan den Boden unter den Füssen wegziehen können.
Allwetterfreund China gibt denn auch diplomatischen Flankenschutz, etwa indem Beijing gegen die Terror-Ächtung von Masood Azhar, dem Führer der Jaish, sein UN-Sicherheitsrat-Veto einlegt. Und auch der Westen toleriert (zur Empörung Indiens) Islamabads Lotterbett mit den Terroristen, um das noch grössere Unglück einer Ausbreitung des IS abzuwenden.
Spirale der Gewalt
Doch schon mit dem Aufkommen der Kaida hatten sich Untergrundgruppen der Kontrolle durch den ISI teilweise entzogen. Sie sahen zunehmend im pakistanischen Staat den Hauptgegner. Die Belagerung und Stürmung der Roten Moschee im Jahr 2008 gilt als Geburtsstunde der Tehreek-e-Pakistan, der pakistanischen Taliban – und als Kriegserklärung.
Auf den schweren Anschlag gegen eine Schule für Kinder von Armeeangehörigen in Peshawar im Dezember 2014 reagierten die Generäle mit einem Vernichtungsfeldzug im Stammesgebiet von Nord-Waziristan, unter Einsatz von rund einer Viertelmillion Soldaten. Praktisch unter Ausschluss der internationen Medienöffentlichkeit wurden Dörfer und Städte von der Luft aus dem Erdboden gleichgemacht, Stadtteile zerstört, Bazare angezündet.
Nährboden für den IS
Erneut kam es zu einem Massenexodus von Flüchtlingen, zahlreiche von ihnen wechselten über die Grenze nach Afghanistan. Dort bietet sich dem IS mittlerweile ein idealer Nährboden. Die Terrormiliz findet nicht nur eine äusserst schwache Rgierung vor; diese ist klammheimlich – und kurzsichtig – sogar schadenfroh, wenn dem alten Feind Pakistan nun mit gleicher Münze heimgezahlt wird. Der IS hat nun mithilfe der alten Kaida-Netzwerke begonnen, unter Flüchtlingen Rekruten auszuheben und Kader auszubilden – für die Eroberung von Khorassan, wie Afghanistan und Pakistan in der IS-Nomenklatur heissen.
Pakistans festgeschnürte Paketlösung beginnt auseinanderzufallen. Die Unterscheidung zwischen guten und bösen Terroristen erweist sich endgültig als Fiktion; dasselbe gilt für die Hoffnung, dass sich Fidayin für Pakistans Machtspiele einspannen lassen, solange ihnen staatlicher Schutz garantiert ist. In Wahrheit scheint die Dynamik anders zu verlaufen: Die Terrorgruppen machen das Spiel so lange mit, bis sie stark genug sind, um das Gängelband abzulegen.
Drohende Ächtung Pakistans
Inzwischen wächst aber der internationale Druck auf Pakistan. An diesem Wochenende tagt die International Cooperative Review Group (ICRG) der Uno. Sie befindet über Sanktionen gegen Staaten, welche die Anti-Terror-Resolution 1267 der Uno nicht umgesetzt haben. Pakistan droht dieses Schicksal, da es Organisationen wie Jaish und Lashkar zwar ächtet, aber deren Stellvertreter-Gruppen weiterhin gewähren lässt.
Um einer solchen Verurteilung zuvorzukommen, stellte die Regierung in Islamabad Ende Januar Hafiz Saeed unter Hausarrest, den Gründer der Lashkar-e-Tayba. Allerdings war dies nicht eben ungewöhnlich, da Saeed immer wieder – so höhnte ein Kommentator von Maverick-TV – in Schutzhaft kommt, wenn Attentatspläne gegen ihn ruchbar werden.
Mächtige Terrororganisationen
Dass der Staat ihn nicht verhaftet und ihm den Prozess macht – Saeed ist seit den Attentaten von Bombay international als Terrorist ausgeschrieben – hat eher damit zu tun, so vermutet der pakistanische Journalist Khaled Ahmed, dass Saeed heute wohl „der mächtigste Mann in ganz Pakistan“ ist.
Im „Indian Express“ fuhr Khalid eine Reihe von Argumenten auf, um diese unglaubliche Behauptung zu stützen. Die Organisationen, hinter denen sich die Lashkar verbirgt, haben Stützpunkte in 260 pakistanischen Städten. Die Tochterfirma Falah Insanyat Foundation, von den USA ebenfalls als Terrororganisation gelistet, ist Pakistans grösste NGO. Sie verfügt über mehrere tausend Schulen, 35 Spitäler, Ambulanzdienste und eine Medizinische Fakultät in Karachi mit 245 Professoren.
Parastaatliche Gebilde
Eine andere Organisation unter dem Namen Jamaat-ud-Dawa zählt laut Khalid 200‘000 Mann in ihren Reihen und ist bereit, „jedem Befehl des Emirs zu gehorchen“. Viele von ihnen seien ohnehin der Meinung, ihr Führer wäre der bessere Premierminister als der gegenwärtige Amtsinhaber.
Saeeds jüngstes Unternehmen beweist, wie aus einer auf Suizid-Missionen spezialisierten Organisation allmählich ein parastaatliches Gebilde geworden ist. Er hat ein informelles Justizsystem eingerichtet, in dem von ihm bestellte Gerichte (islamisches) Recht sprechen und Strafen aussprechen. Allein in Lahore, so Ahmed, seien inzwischen rund 3‘500 Urteilssprüche ergangen.