Unter den vielen Wortmeldungen zu Kaschmir, die in den letzten beiden Wochen aus aller Welt eintrafen, gab es eine besonders pikante. Sie stammte von den afghanischen Taliban. Noch erstaunlicher war deren Inhalt. Beide Konfliktparteien – Indien und Pakistan – wurden nämlich aufgefordert, eine friedliche Lösung anzustreben. Afghanistans Geschichte habe gezeigt, dass kriegerische Konflikte mehr Elend hinterlassen als friedliche, demokratische Lösungen.
Zynischer Rat aus den Reihen der Taliban
Diese wertvolle Einsicht stammt aus dem gleichen Mund, der sonst jeweils stolz bekanntgibt, dass ein weiteres Attentat in Afghanistan von den eigenen Leuten verübt worden ist. Die Taliban befinden sich seit 25 Jahren im Krieg zur Wiedereroberung Afghanistans, einem Krieg, der im wesentlichen aus Terroranschlägen gegen zivile Ziele besteht.
Letztes Wochenende lieferten sie einen weiteren Beweis ihrer zynischen Methoden, als sie in einer Hochzeitshalle in Kabul ein Blutbad anrichteten, mit über sechzig Toten und dreimal so vielen Verwundeten.
Taliban und Pakistans Geheimdienst
Was könnte die Islam-Studenten zu einer Äusserung veranlasst haben, von denen sie wissen mussten, dass sie weitherum mit Entrüstung quittiert würde? Doch ist sie wirklich so bizarr? Sind dies nicht dieselben Gesellen, die in Katar mit amerikanischen Diplomaten über einen Frieden (sprich: einen Abzug der US-Truppen) verhandeln, während deren Kameraden im Feld eifrig Bomben basteln?
Es könnte hilfreich sein, dem Motiv der Taliban-Stellungnahme nachzugehen. In ihm liegt vielleicht auch die Antwort auf die Frage, wie Pakistan mit der jüngsten Eskalation im Kaschmir-Konflikt umzugehen gedenkt.
Man weiss, dass Pakistan nicht sehr erbaut ist über das Tête-à-Tête in Doha, trotz wortreicher Behauptungen des Gegenteils. Die Taliban sind eine Schöpfung des pakistanischen Militärgeheimdienstes ISI. Sie waren lange auch dessen Pfeilspitze, um die international anerkannte Regierung Afghanistans zu Fall zu bringen.
Zangengriff von Terror und Diplomtie
Bereits einmal, als die Taliban zwischen 1997 und 2011 in Kabul das Sagen hatten, ist dem ISI dies gelungen. Schon damals hatte die amerikanische Invasion nach 9/11 diesem Experiment ein Ende gesetzt. Nun soll es ein zweites Mal geschehen, dank dem Zangengriff von Terror und Diplomatie, unter Ausnützung von Amerikas Kriegsmüdigkeit – dem längsten Auslandskrieg seiner Geschichte.
Doch warum plötzlich die scheinbare Gleichsetzung von Pakistan und Indien im jüngsten Aufruf der Taliban? Militärisch und logistisch sind sie immer noch von Islamabad abhängig. Offensichtlich wollen sie sich aber von ihrer Rolle als Marionette des ISI emanzipieren. Sie führen sich in Doha eh schon wie Sieger auf, und erinnern ein bisschen an den Vietcong, als dieser 1973 in Paris mit Henry Kissinger über den Abzug der US-Truppen aus Südvietnam verhandelte. Sind sie einmal in Kabul am Ruder, werden sie sich kaum mehr als Pakistans Speerspitze sehen.
Pakistan ist sich dessen natürlich bewusst. Für seine Aussen- und Sicherheitspolitik gilt weiterhin das Axiom, sich neben militärischen Mitteln auch „unkonventioneller“ Zwangsmittel – sprich Terrorgruppen – zu bedienen. Es besteht also kein Grund für den ISI, tatenlos zuzuschauen, wenn ihm nun ein solcher irregulärer Asset wie die Taliban zu entgleiten droht. Er baut sich eben einen neuen.
Handschrift des Islamischen Staats
Seit Monaten kursieren in Pakistan und Afghanistan Gerüchte, wonach sich die Dunkelmänner in Islamabad in IS-Zellen mit Zielrichtung Afghanistan einschleusen, die vor zwei Jahren erstmals in Erscheinung traten – auf pakistanischem Boden. Die Rechtfertigung des ISI ist immer dasselbe: Wir können radikale Bewegungen nur kontrollieren, wenn wir darin „eingebettet“ sind.
Attentate wie jenes in der Hochzeitshalle von West-Kabul am Wochenende erscheinen plötzlich in einem anderen Licht als die meisten Anschläge der letzten Jahre. Diesmal waren die Zielscheiben nicht einfach Zivilisten, es waren solche der schiitischen Hazara-Stammesgruppe. Zwar sind auch die Taliban Sunniten, doch verfolgen sie seit langem eine pan-ethnische nationale Politik, die nicht sektiererisch zu sein vorgibt. Das Blutbad verrät also die Handschrift des Islamischen Staats.
Ziel: Vertreibung des Kabul-Regimes
Für die Annahme, dass die IS-Spur vor die Haustür der pakistanischen Geheimdienstes führt, gibt es zumindest Hinweise. Gemäss amerikanischen Informationen hat der IS in der ostafghanischen Provinz Nangarhar seine ersten territorialen Stützpunkte errichtet. Es ist die Region, die vom Haqqani-Netzwerk beherrscht wird, einem Terror-Clan, in den der ISI noch tiefer eingebettet ist.
Obwohl sie in Afghanistan dasselbe Ziel verfolgen – die Vertreibung des „Kabul-Regimes“ – operieren die Haqqanis weitgehend unabhängig von den Taliban. Genau wie der IS sind sie eine latente Bedrohung für die Taliban, sollten diese auf Distanz zu ihren Lehrmeistern gehen wollen.
Damit wird auch der Kaschmir-Kommentar der Taliban sinnfällig. Ihnen kommt eine Eskalation des Kaschmirkonflikts ungelegen, just im Augenblick, da sie sich dank der diplomatischen Aufwertung durch Washington bereits als die baldigen Herren in Kabul sehen.
Energieschub für Pakistan im Kaschmir-Konflikt
Mit dem konstitutionellen Handstreich der indischen Regierung gegen den eigenen Bundesstaat erhält Pakistans ausgelaugtes Kaschmir-Engagement plötzlich wieder einen neuen Energieschub. Er erhöht den Handlungsspielraum von Regierung und Armee und erlaubt ihnen den Rückgriff auf die bewährten Methoden irregulärer Kriegführung, mit der sie international immer mehr ins diplomatische Abseits geraten sind. Dies gilt für Afghanistan sowie dem Auftritt neuer Störfaktoren wie dem IS, der zum Stachel im Fleisch der Taliban werden könnte – mit Hilfe des ISI.
Und es gilt für Pakistans Indien-Obsession. Noch ist es verfrüht, eine Gegenstrategie der Generäle in Rawalpindi auszumachen, die Indiens „Kolonisierung“ Kaschmirs für sich nutzen könnte. Wie immer ihre Reaktion ausfallen wird, Pakistans Machthaber können darauf zählen, dass sie auf breite Zustimmung im Volk stossen wird. (Es ist ein ernüchterndes Spiegelbild Indiens, wo die Volksmeinung Narendra Modis Coup vom 5.August ebenso enthusiastisch beklatschte.)
Diplomatisch hat Islamabad seinen alten Anspruch als Sprecher für das unterdrückte kaschmirische Volk bereits angemeldet. Dies sei seine Pflicht, sagte Premierminister Imran Khan am pakistanischen Unabhängigkeitstag von der Warte der pakistanisch besetzten Kaschmirregion aus. Er erinnerte die Welt an das Selbstbestimmungsrecht Kaschmirs und die Pflicht Pakistans, den kaschmirischen Brüdern Schutz zu bieten.
Hochschaukeln der Feindbilder in Indien und Pakistan
Der Subtext war seinen Zuhörern in Muzaffarabad am 14. August sogleich klar: Wenn die schutzsuchenden Flüchtlinge nach Indien zurückkehren, werden sie dies nicht als Zivilisten tun; aber auch nicht als Terroristen, sondern als Mudschaheddin, wie jene in Afghanistan in den achtziger Jahren.
Das erneute Aufflammen des ältesten Konflikts der Nachkriegswelt verschafft Islamabad, so hofft es zumindest, wieder diplomatische Bewegungsfreiheit. Es würden nicht gleich Rufe nach Sanktionen laut werden, wenn es Selbstmordmissionen der neuen „Mudschaheddin“ unterstützt. Es könnte damit zu seiner bewährten Doppelstrategie von konventioneller und unkonventioneller Kriegführung zurückkehren, ohne dass die internationale Gemeinschaft gleich von Kumpanei mit Terroristen redet.
Innenpolitisch gibt die Eskalation in Kaschmir der tiefsitzenden Angstneurose Pakistans gegenüber Indien frische Nahrung. Sie kommt dem militärischen Establishment gelegen, stärkt sie doch dessen Legitimität als allein bestimmende Staatsgewalt, die selbst die Pflege von Terrornetzwerken in weiten Teilen der Bevölkerung politisch verdaubar macht.
Die Tragik der jüngsten Entwicklung liegt darin, dass sich in beiden Ländern die gegenseitigen Feindbilder immer mehr hochschaukeln und verzahnen. Die Marginalisierung der muslimischen Minderheit in Indien nährt in Pakistan das Schreckgespenst einer erdrückenden Hindu-Herrschaft. Und in Indien rechtfertigt Pakistans Reaktion – der Griff zur Waffe terroristischer Unterwanderung – den majoritären Machtreflex.