Vor zwei Wochen geriet Hamid Mir, der bekannteste Fernsehjournalist Pakistans, auf dem Weg zur Arbeit in einen Hinterhalt. Sein Auto kam von mehreren Seiten unter Beschuss, und er wurde schwer verletzt. Aber er überlebte und bezeichnete von seinem Spitalbett aus den militärischen Geheimdienst ISI und ihren Chef persönlich als Hintermänner des Attentats.
Als Mirs Fernsehkanal, Geo TV, dessen Anklage fast stündlich wiederholte, schlug das ‚Establishment‘ zurück. Die Armee erhob Anklage wegen Landesverrats gegen GEO TV, weil er die ‚staatstragende Institution Pakistans in den Schmutz gezogen hatte, die Regierung von Nawaz Sharif musste sich ebenfalls eilig hinter die Armee stellen, GEO-Konkurrenten wurden angewiesen, sich auf ihren Rivalen einzuschiessen, wenn ihr die Fernsehlizenz weiterhin lieb war.
Zweite, dritte Macht
Damit waren die Theaterkulissen wieder einigermassen zurechtgerückt, vor denen die Machthaber und ihre Adlaten ‚Staat Pakistan‘ spielen. Die alte Regie-Anweisung hatte wieder Gültigkeit, die da lautete: Pakistan ist ein demokratisches Land, mit einer erstklassigen Armee, und in dessen Schoss arbeiten (‚dieser Zusatz mit Augenzwinkern‘) die Geheimdienste, die im höheren Staatsinteresse handeln dürfen, sprich: nicht durch Gesetze und Vorschriften eingeschränkt sind.
Pakistan kennt hinter seiner demokratischen Fassade nicht nur eine zweite Realität (die eigentliche Macht liegt bei der Armee), sondern auch eine dritte (die Geheimdienste besorgen das dreckige Geschäft), vielleicht sogar eine vierte: Innerhalb des militärischen Geheimdienstes ISI und ohne das Wissen einer Grosszahl seiner Mitarbeiter sind Zellen tätig, die im Spionage-Slang im ‚Deep Background‘ operieren. Im Unterschied zu westlichen Geheimdiensten gibt es keine gesetzlichen Kontrollgriffe.
Pakistanische Taliban
Dies ist, wenn auch eine äusserst fragile, so doch eine nützliche Architektur. Sie erlaubt es dem Premierminister als demokratisch gewähltem Politiker, sich mit Vertretern anderer Demokratien zu unterhalten, sie um Wirtschaftshilfe anzugehen und Unterstützung bei der Stärkung demokratischer Institutionen. Die Armee wiederum kann mit befreundeten Armeen Manöver durchführen, an deren Spitze stehen Offiziere, die in Sandhurst und West Point Kurse absolviert haben.
Leider muss sich Pakistan auch mit knorrigen Problemen in seinem Hinterhof herumschlagen – Indien, Afghanistan –, und diese sind schuld, dass es dabei auch ausserordentliche Mittel einsetzen muss. So muss es seine militärische Unterlegenheit gegenüber Indien, wer versteht das nicht, anderswie wettmachen. Es tut dies etwa mit Kombattanten, die Hotelgäste erschiessen und in Vorortszügen Bomben zurücklassen. Bei Afghanistan geht es darum, sich als bedeutender Nachbar im Gespräch zu halten. Dies lässt sich durch den Einsatz von ‚Proxies‘ tun, das Haqqani-Netzwerk zum Beispiel, oder die afghanischen Taliban. Das sind die Aufgaben, auf die der militärische Geheimdienst ISI spezialisiert ist.
Omertà
Die Terror-Kumpanern verfolgen aber auch ihre eigenen Ziele – zum Beispiel den pakistanischen Staat, den eigenen Auftraggeber also, durch einen islamischen zu ersetzen, wenn möglich mit Gewalt. Da ist es nützlich, einen Dienst zu haben, der noch hinter diesen Gruppen operiert und sie zu manipulieren versteht. Dies gelingt nicht immer – ein Angriff auf das militärische Hauptquartier in Rawalpindi und zwei Attentate auf den Staatschef wurden beide durch pakistanische Taliban verübt. Sie zu verhindern ist Aufgabe von tief eingebetteten Zellen innerhalb von Armee und ISI.
Spricht man mit Vertretern der pakistanischen Zivilgesellschaft – Journalisten, Anwälten, NGOs, Akademikern – merkt man schnell: Diese Tiefenstruktur des Staats ist allen bekannt. Insofern gehören auch sie zum ‚Establishment‘, selbst wenn sie dieses heftig ablehnen. Es garantiert Hintergrundwissen und manchmal diskreten Staatsschutz, für den Fall, dass die rechte Hand nicht immer weiss, was die Linke tut. Der Preis ist hoch: man muss sich an die ‚Omerta‘ halten. Wer wie Hamid Mir meint, dass z.B. die mediale Sichtbarkeit eines Fernsehsenders einen Schutzschild bietet, muss dafür vielleicht zahlen.
Bin Laden – Gast des Militärs?
Soeben hat Carlotta Gall, die ehemalige Pakistan- und Afghanistan-Korrespondentin der ‚New York Times‘ ein Buch herausgegeben, das Aufsehen erregt hat. Auf der Grundlage von Gesprächen, u.a. mit ehemaligen ISI-Offizieren, behauptet sie, dass Osama Bin Laden Gast der pakistanischen Militärs gewesen war und vom Geheimdienst in der Garnisonsstadt Abbotabad untergebracht worden war.
Nur in Pakistan hält sich das Staunen in Grenzen, denn es ist etwas, das die Pakistaner, in einer Mischung von Bewunderung und Zynismus, von ihrem Staat erwarten. Der Schock, der das Husarenstück der ‚Navy Seals‘ im Mai 2011 in Pakistan auslöste, war nur im breiten Publikum echt. Sonst war es, so Gall, gut gespieltes Theater zuhanden des eigenen und ausländischen Publikums: Der Premierminister gab sich äusserst schockiert, er wagte gar leise Kritik an der Armee. Deren Chef General Kayani war gezwungen, den Spott und Hohn der Medien über sich ergehen zu lassen – aber was tut man nicht, wenn die Fassade die wichtigere Realität ist? Wie Carlotta Gall zeigt, geschah Ähnliches bereits 2007, als der ISI es zuliess, dass seine islamistischen Schützlinge in der ‚Roten Moschee‘ im Machtzentrum des Landes seinen eigenen Chef, Präsidentengeneral Musharraf, herausforderten.
Pakistan ist allzu gefährlich
Der Gastgeber Osamas in Abbotabad, so zitiert Carlotta Gall einen pakistanischen Journalisten, war Brigadier Ijaz Shah gewesen, der Chef des ‚Intelligence Bureau‘, der ‚zivilen‘ Schwesterorganisation des ISI. Ich hatte seinen Namen bereits einmal gehört. Als Benazir Bhutto im Oktober 2007 bei ihrer Rückkehr nach Pakistan in Karachi knapp einem Attentat entging, zählte sie uns Journalisten am folgenden Tag ohne Wimpernzucken die vier Leute auf, die ihr nach dem Leben trachteten. Zu ihnen gehörte Ijaz Shah. Zwei Monate später war BB tot.
Carlotta Galls Buch hat in Washington einmal mehr zu empörten Rufen nach einem Ende der Beziehungen mit Pakistan geführt; das Lügentheater müsse endlich ein Ende nehmen, ebenso die Waffenlieferungen. Die ernüchternde Antwort ist immer dieselbe: Ein Land mit 200 Millionen Einwohnern, in dieser geostrategischen Lage – zwischen Indien, China, Iran, dem Golf – und mit einem rasch wachsenden Arsenal von Atomsprengköpfen, kann nicht einfach alleingelassen werden. Pakistan ist zu gefährlich, um ignoriert zu werden.
Bin Laden – ein Bauernopfer?
Die Amerikaner wissen, dass sie den offiziellen Realitäten von Pakistan-1 und Pakistan-2 nicht trauen können. Vermutlich mischen sie auch auf der dritten Ebene mit, oder sind sogar mit dem vierten Kreis im Gespräch. Von diesem heisst es nämlich, er habe 2011 gewusst, dass sich das Netz um Osama bin Laden zusammenzog. Man konnte den Überfall nicht verhindern, wollte es vielleicht gar nicht, da der pensionierte Terrorist seine Nützlichkeit eingebüsst hatte. Ein Bauernopfer.
Allerdings darf man dies in Pakistan nicht laut sagen, sonst schlägt der ‚tiefe Staat‘ zu. Der Polizei-Offizier, der Bhuttos Mord untersuchte, wurde auf offener Strasse niedergeshossen. Und der Journalist, der Carlotta Gall von Pakistans Gast in Abbotabad erzählt hatte, ist der Bruder von Hamid Mir, der in einem Krankenhaus in Karachi seine Schusswunden pflegt.