Thomas Greminger ist ein bestens ausgewiesener Diplomat, der als OSZE-Generalsekretär im Rahmen der Möglichkeiten dieser internationalen Organisation das Beste zu deren Stärkung versucht und auch einiges erreicht hat. Er wurde – so viele Kommentare – zum Bauernopfer in einer Kampagne, die sich anfänglich nur gegen den OSZE-Beauftragten für Medienfreiheit, den Franzosen Harlem Désir richtete.
Eigentlich sollten die vier höchsten OSZE-Amtsträger in einem Gesamtpaket wiedergewählt werden, neben den beiden bereits Erwähnten auch die Vorsitzende des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte sowie der Hochkommissar für Minderheiten. Der Widerstand gegen den Beauftragten für Medienfreiheit – aus Staaten, die von diesem kritisiert worden waren –, rief andere Widerstände auf den Plan, was schliesslich die Wiederwahl aller vier Amtsträger verunmöglichte.
Dass sich die Schweiz auf allen Ebenen tatkräftig für die Wiederwahl eingesetzt hat, steht ausser Frage. Aufhorchen lässt indessen die Aussage des nun nicht wiedergewählten Diplomaten, der – mit Ausnahme von Deutschland – ein Engagement der Grossmächte zur Verteidigung der OSZE-Institutionen vermisste. «Ein Anruf von Präsident Macron an seinen aserbaidschanischen Amtskollegen hätte möglicherweise etwas bewegt. Dass man gleichzeitig blockt und passiv bleibt, stört», hielt er in einem Interview fest [1]. Der Anruf hätte möglicherweise auch ihn vor der Nicht-Wiederwahl bewahrt.
Aber Aussenpolitik muss gesamthaft betrachtet werden. In dieser Gesamtbetrachtung spielt das politische Ansehen der Schweiz im europäischen Ausland eine nicht geringe Rolle. Zwei Persönlichkeiten haben sich dieser Tage dazu geäussert, und dies in einer recht offenen und der Schweiz gegenüber eigentlich sehr wohlwollenden Haltung: Der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der sich aus Bern nun verabschiedende Botschafter der Bundesrepublik Deutschland Norbert Riedel. «Da hatte die Europäische Kommission mit der Schweiz über Jahre verhandelt. Und dann kommt der Bundesrat und sagt, er finde das eigentlich nicht schlecht, aber er haben keine abschliessende Meinung dazu», sagt Riedel, und dann: «Warum hat man die ganzen Jahre verhandelt, und dann plötzlich hat man keine Meinung dazu?» [2] Juncker bringt das eigenartige schweizerische Europa-Verständnis vollends auf den Punkt: «Die Schweizer haben immer versucht, mit ihren Nachbarstaaten Sonderverabredungen zu treffen. Das wollten die Mitgliedstaaten aber nicht, sondern sie ermutigten die Kommission, weiterzumachen auf diesem Weg des Rahmenabkommens. Nun ist es an der Schweiz. Die Schweiz muss springen. Ich formuliere das jetzt salopp.» [3]
Die Europäische Union ist keine internationale Organisation wie die UNO, der Europarat oder die OSZE. Sie ist auch kein eigener Staat. Sie ist ein gemeinsamer Rechtsraum mit genauen Regeln darüber, wie EU-Recht zustande kommt und wie es für alle einheitlich ausgelegt wird, letztlich durch höchstrichterliche Entscheidungen. Unter diesen Voraussetzungen haben die Mitgliedstaaten einen Teil ihrer Rechtssetzungs-Souveränität an die Union übertragen. Gestützt darauf übt die EU «hoheitliche» Tätigkeit auch gegenüber Privatpersonen oder Privatfirmen aus. Vor allfälligen rechtswidrigen Übergriffen durch die Anwendung des supranationalen EU-Rechtes werden Private durch den EU-Grundrechtekatalog geschützt. Dieser Schutz erstreckt sich auch auf Rechtsträger in EU-Nicht-Mitgliedstaaten, insoweit auf sie EU-Recht angewendet wird. All dies ist Voraussetzung für die Rechtssicherheit im Europäischen Binnenmarkt.
Es war eine Meisterleistung schweizerischer Diplomatie, auf bilateralem Weg den Zugang zum europäischen Binnenmarkt und damit zu einem grossen Teil des gemeinsamen Rechtsraumes aufrechtzuerhalten. Wegen ihrer wirtschaftlichen Verflechtung mit Europa war und ist die Schweiz auf diesen Zugang unbedingt angewiesen. Die Meisterleistung war nur deshalb möglich, weil der Bilateralismus als Übergangslösung bis zum EU-Beitritt gedacht war: Das schweizerische Gesuch um Aufnahme von Beitrittsverhandlungen lag nämlich damals in Brüssel auf dem Tisch. Hätte man dort den späteren Rückzug des Gesuches geahnt, wer weiss, ob sich die Union den nachhaltigen späteren Ärger mit der Schweiz nicht lieber erspart hätte.
Weshalb dieser Ärger? Dass die Schweiz als Nicht-Mitglied auf Mitwirkung an der EU-Rechtssetzung verzichtet, kann der EU egal sein. Unannehmbar ist für sie hingegen deren Weigerung, die einheitliche Auslegung des EU-Rechtes anzuerkennen, denn dies bedeutet Rechtsunsicherheit sowohl in der Schweiz als auch im europäischen Ausland. Seit dem zunächst informellen Rückzug des Gesuchs, also etwa seit 10 Jahren verlangt die EU von der Schweiz, dass dafür eine Lösung gefunden werden muss, und seit fünf Jahren wird darüber verhandelt. Seitens der Schweiz wird die Sache immer wieder hinausgezögert, mit unterschiedlichen Begründungen. So könnte denn im europäischen Umland nachgerade die Frage auftauchen, ob die Schweiz – oder immerhin massgebliche politische Kräfte in diesem Land – die EU nicht vielleicht doch mit einer internationalen Organisation verwechseln, von der man nach Belieben einiges haben könne und auf anderes einfach verzichten ... ein erstaunlich geringes Verständnis für die Notwendigkeit von Rechtssicherheit in einem gemeinsamen Rechtsraum.
Es kann hier nicht um die Frage gehen, was in der OSZE anders gelaufen wäre, wenn sich die Schweiz der EU gegenüber anders verhalten würde. Solche Fragen können schon deshalb nicht gestellt werden, weil sie nie seriös zu beantworten sind. Es geht um etwas Grundsätzlicheres: Erfolgreiche Aussenpolitik ist unter anderem abhängig von Zuverlässigkeit, Voraussehbarkeit und Konsistenz. Wenn ein Staat in einem überschaubaren aussenpolitischen Bereich offensichtlichste Tatsachen einfach ignoriert, läuft er Gefahr, einen Teil seiner Glaubwürdigkeit auch in anderen Bereichen zu verlieren, in denen er sich durchaus klug und klarsichtig verhält.
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*) Die Autorin war 1994–1996 Botschafterin der Schweiz beim Europarat in Strassburg, danach bis 2000 von der OSZE gewählte Ombudsfrau für Menschenrechte des Staates Bosnien-Herzegovina in Sarajevo.
[1] NZZ 16.7.2020
[2] https://www.srf.ch/news/schweiz/deutscher-botschafter-tritt-ab-der-moment-als-norbert-riedel-den-bundesrat-nicht-mehr-verstand
[3] NZZ am Sonntag, 12.07.2020