Seit Putins Überfall auf die Ukraine hat das Wort Ostpolitik im deutschen Sprachraum einen schlechten Ruf. Als Willy Brandt vor einem halben Jahrhundert seine neue Ostpolitik einleitete, war diese aber weitherum populär. Sie wurde auch von seinen Nachfolgern fortgesetzt. Wer heute die frühere Ostpolitik als naiv kritisiert, vergisst, dass diese Politik nicht nur Entspannung zu Russland anstrebte, sondern auch Veränderungen in ganz Osteuropa. Im ehemaligen sowjetischen Machtbereich haben sich epochale Umbrüche abgespielt.
Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es nicht leicht, wenn heute über ihre 16-jährige Amtszeit als Regierungschefin geurteilt wird. Namentlich seit Putins Überfall auf die Ukraine heisst es weitherum, ihre Ostpolitik des intensiven Dialogs und des Ausbaus der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland habe sich als naiv erwiesen, sie sei klar gescheitert. In einer längeren Sendung im vergangenen Mai des als seriös geltenden «Deutschlandfunks» über die «Bilanz deutscher Ostpolitik» heisst es, das mit dieser Politik verbundene Konzept eines «Wandels durch Annäherung» im ehemals sowjetischen Herrschaftsbereich habe sich als Illusion entpuppt. Putin habe mit seinem Angriffskrieg gegen ein europäisches Nachbarland die falschen Hoffnungen entlarvt.
Ostpolitik heisst nicht nur Russlandpolitik
Das ist ein ziemlich polemisches und vor allem ungerechtfertigt pauschales Urteil. Die von Bundeskanzler Willy Brandt und seiner Regierung Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre eingeleitete Ostpolitik hatte ausdrücklich nicht nur ein besseres und konstruktiveres Verhältnis mit Moskau zum Ziel. Es ging unmissverständlich auch um einen offeneren Dialog und innere Lockerungen in den damals vom Sowjetregime beherrschten osteuropäischen Ländern. Deshalb hiess der Oberbegriff für diesen neuen Kurs ja auch nicht «Russlandpolitik», sondern «Ostpolitik». Das damals heftig debattierte Entspannungskonzept war ausserdem kein exklusiv von deutscher Seite lanciertes Unternehmen, es war mehr oder weniger eng eingebettet in ähnlichen Bemühungen von amerikanischer, französischer und anderer westlicher Seite.
Das einprägsamste Symbol für diesen gesamteuropäischen Ansatz der damals und heute wieder so kontroversen Ostpolitik bleibt wohl das Bild vom Kniefall Willy Brandts 1970 in der polnischen Hauptstadt Warschau. Doch ging es keineswegs kontinuierlich nur vorwärts mit der damals lancierten Ost- und Entspannungspolitik. Es gab trotz Normalisierungsverträgen schwere Rückschläge und Enttäuschungen wie die verstärkte Repression gegen Regimekritiker in den Ostblockstaaten, die Zerschlagung der Solidarnosc-Bewegung in Polen, den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan.
Auf längere Sicht aber ereigneten sich in ganz Osteuropa von Moskau bis Ostberlin wahrhaft epochale Umbrüche, von denen noch ein paar Jahre zuvor kaum jemand zu träumen gewagt hatte: der Fall der Berliner Mauer, die Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten, die Auflösung der Sowjetunion, die Beseitigung kommunistischer Regimes in den früheren Satellitenstaaten und später deren Beitritt zur EU und zur Nato.
«Wandel durch Annäherung» kein leerer Begriff
Ob diese tiefgreifenden Umwälzungen im früheren sowjetischen Ostblock ausschliesslich oder wenigstens hauptsächlich durch die zwanzig Jahre zuvor eingeleitete neue Ost- und Entspannungspolitik des Westens in Bewegung gebracht wurden, darüber lässt sich lange streiten. Aber dass diese Politik und das Konzept des «Wandels durch Annäherung» jene «Zeitenwende» erheblich mitbeeinflusst haben, wird man nicht glaubwürdig widerlegen können.
Deshalb reduzieren die heutigen Fundamentalkritiker von Merkels aussenpolitischem Kurs den Begriff der Ostpolitik denn auch bewusst einseitig auf die Beziehungen zu Russland und zum Putin-Regime. In dieser eingeschränkten Sicht hat die Idee vom «Wandel durch Annäherung» tatsächlich versagt. Die frühere Kanzlerin muss das spätestens 2014 nach der russischen Annexion der Krim und dem Krieg um die separatistischen Provinzen in der Ostukraine eingesehen haben, denn schon damals erklärte sie, Putin lebe «in einer anderen Welt». Merkel war es auch, die damals die westlichen Wirtschaftssanktionen gegen das Putin-Regime wesentlich vorantrieb. Dem Lager der sogenannten Putin-Versteher, die reflexartig den Westen für Putins Aggressivität verantwortlich machen, kann man die Ex-Kanzlerin gewiss nicht zurechnen.
Nordstream 2 ein klarer Fehler
Negativ ankreiden kann man ihr allerdings, dass sie dem Abkommen zum Bau der Nordstream-2-Pipeline, die noch mehr russisches Gas nach Europa bringen sollte, so konsequent die Stange hielt – obwohl sie wusste, dass dieses Projekt sich gegen die ukrainischen und polnischen Interessen und deren Transit-Pipelines richtete.
Wer heute aber in Anspruch nimmt, man habe Putins Frontalkrieg gegen die Ukraine mit Sicherheit schon lange voraussehen können, bewegt sich auf ziemlich wackligem Terrain. Namhafte Kenner Osteuropas wie unlängst der Historiker Christopher Clark im «Spiegel» bestätigen jedenfalls, dass sie von der Entscheidung des Kremlchefs zum vollen Einmarsch im Nachbarland völlig überrascht worden seien, auch wenn zuvor klar war, dass Putin die Ukraine mit allen anderen Mitteln – inklusive einer militärischen Drohkulisse entlang der Grenze – zu erpressen suchte.
Der Begriff Ostpolitik hatte in Europa immer einen schillernden Klang. Bei seiner Lancierung vor gut fünfzig Jahren verbanden ihn viele mit hochfliegenden Hoffnungen auf eine völlige Überwindung des Ost-West-Gegensatzes und einen dauerhaften Frieden in ganz Europa. Kritische Stimmen hingegen warnten vor gläubigem Appeasement gegenüber dem expansiven Machttrieb des russischen Imperiums und seiner Tradition. Putin hat mit seinem verbrecherischen Ukraine-Krieg diesen negativen Vorurteilen jetzt zu neuer Dominanz verholfen. Doch dadurch sollte nicht verdrängt werden, dass unter dem Zeichen der Ostpolitik auch sehr viel positivere europäische Entwicklungen möglich geworden sind.