Die syrische Armee ist nach heftigen Kämpfen, die am 25 Juni begonnen hatten, auf einen Hügel vorgerückt, von dem aus sie die letzte Strasse, die Ost-Aleppo mit der Aussenwelt verbindet, beschiessen und den Verkehr darauf abschneiden kann. Die Strasse wird "Castello Road" genannt. Der Hügel, auf dem die sogenannten Mallah Gehöfte liegen, ist nur einen Kilometer von der Strasse entfernt.
Bleiberecht als Söldnerlohn
Die Widerstandsgruppen, die in Ost-Aleppo verschanzt sind, sandten alle in den letzten drei Tagen Mannschaften aus, um Gegenangriffe zu führen und die syrische Armee aus ihren neuen Positionen zurückzudrängen. Doch offenbar bisher ohne Erfolg. Die syrische Armee wird von russischen Kampfflugzeugen aus der Luft unterstützt. Die Rebellen sprechen von Dutzenden von Luftangriffen, denen sie ausgesetzt seien. Al Jazeera, das den Rebellen zuneigt, meldete 150 Luftangriffe auf Ost-Aleppo in den letzten Tagen. Sie hätten zum Tod von 20 Zivilisten geführt. Die Widerstandskämpfer betonen auch, dass libanesische Hizbullah-Einheiten, Afghanen und iranische Berater auf der Seite Asads eingesetzt würden.
Die Hizbullah-Führung hatte Ende des vergangenen Monates angekündigt, sie werde vermehrt Kämpfer nach Aleppo entsenden. Bei den Afghanen handelt es sich um afghanische Flüchtlinge in Iran, die von den iranischen Behörden als Söldner rekrutiert werden, dem Vernehmen nach mit dem Versprechen, dauerhaften Aufenthalt in Iran zu erhalten, wenn sie lebend zurückkehren.
Aushungerung steht bevor
Wenn die Gegenangriffe der Rebellengruppen weiterhin erfolglos verlaufen, ist die Umzingelung von Ost-Aleppo, dem Stadtteil, der von den Rebellen beherrscht wird, perfekt. Das heisst, eine Belagerung der östlichen Stadtteile wird beginnen, in denen sich noch zwischen 250´000 und 300´000 Zivilisten befinden. Gehalten werden sie von zahlreichen Kleingruppen der Rebellen, die alle mehr oder minder intensiv mit der Al-Nusra-Front (dem syrischen Arm von al-Qaida) zusammenarbeiten.
Manche dieser Gruppen haben bisher Militärmaterial und Munition aus der Türkei erhalten. Dieses wird teils von der CIA finanziert und bereit gestellt, grossen teils aber auch von den Erdölstaaten am Golf, in erster Linie Saudi Arabien. Die Türkei ist offiziell nicht involviert, hat jedoch de facto diesen Verkehr immer geduldet und ohne Zweifel auch beaufsichtigt. Die türkischen Behörden wollen in erster Linie vermeiden, dass die kurdischen Kämpfer an der türkischen Grenze von derartigen Lieferungen profitieren. Doch diese werden von den Amerikanern gestützt, weil sie die tüchtigsten Kämpfer gegen den IS abgeben.
Ende der humanitären Hilfe?
In Ost-Aleppo sollen gegenwärtig etwa 75´000 Personen vollständig von Hilfslieferungen abhängen, die bisher von den Hilfswerken, in erster Linie dem in Oregon beheimateten Mercy Corps, über die nun gesperrte Strasse ebenfalls aus der Türkei geliefert wurden. Sie kommen nun nicht mehr durch. Falls die syrischen Truppen ihre Stellung halten und ausbauen können, steht Ost-Aleppo nun eine Belagerung bevor, in der die Aushungerung und der unvermeidlich um sich greifende Mangel an Munition entscheidende Kampfmittel sein werden.
Dies wurde in kleinerem Massstab bereits in zahlreichen Vorstädten von Damaskus, die vom Widerstand beherrscht waren, durchgeführt. Diese Belagerungen dauerten Monate, manche von ihnen mehrere Jahre. Am Ende siegte fast überall der Hunger. Die Regierung von Damaskus zeigte sich oftmals bereit, Kompromisse einzugehen. Sie erlaubte den Widerstandsgruppen der belagerten Ortschaften, ihre leichten Waffen zu behalten. Doch ihre schwereren mussten sie abgeben und mancherorts mussten sie auch zulassen, dass die syrischen Sicherheitsbehörden in "ihre" Städte einzogen. Die Gegenleistung der Regierung war, dass Nahrungsmittelkonvoys und Medikamente zugelassen wurden. Doch dies war eine Gegenleistung, die die Regierung jederzeit einstellen konnte.
Ein kriegsentscheidender Schritt
Solche Kompromisse waren zustande gekommen, weil die Regierung nicht über genügend Soldaten verfügt, um ganz Syrien militärisch zu kontrollieren. Falls die nun höchstwahrscheinlich bevorstehende Belagerung Ost-Aleppos zustande kommt, dürfte es nach einer langen Aushungerungs- und Schwächungsperiode möglicherweise zu ähnlichen Abmachungen kommen. Doch muss man erwarten, dass die Forderungen der Regierung schärfer ausfallen werden als dies im Raum von Damaskus in Zeiten der Fall war, in denen die Russen noch nicht direkt in den Bürgerkrieg eingegriffen hatten.
Wenn es zu einer derartigen Belagerung von Aleppo kommt und die Asad-Armee mit ihren Hilfskräften und der Unterstützung durch die russische Luftwaffe diese durchzuhalten vermag, könnte dies der entscheidende Schritt werden, der die Vorherrschaft Asads absichert. Die Liquidation der Positionen von Nusra und verbündeten Milizen in der Provinz Idlib wäre dann der letzte Schritt zur Rückeroberung des "nützlichen Syriens" durch die Regierung Asads. Übrig bliebe im wesentlichen der IS am Euphrat und östlich des Euphrats. Doch dieser wird dann von allen Seiten des multilateralen Bürgerkrieges bekämpft werden: den Amerikanern, den Russen, den Kurden, der kurdisch-arabischen Armee, verbleibenden sunnitischen Rebellengruppen, den Irakern - und Asad kann sich zurücklehnen und seine Macht über das "nützliche Syrien" ausbauen und festigen.
"Waffenstillstand" als Beruhigungspille
Die gegenwärtigen Entscheidungskämpfe um die Umzingelung Ost-Aleppos fanden statt und dauern weiter an, obgleich die Regierung von Damaskus am Mittwoch, dem 6. Juli 2016, einen dreitätgigen Waffenstillstand ausgerufen hatte. Der amerikanische Aussenminster hatte diesen Schritt am Mittwoch begrüsst, aber am Donnerstag merkte das amerikanische Aussenminsterium bereits an, dass die Kämpfe an der entscheidenden Front von Aleppo andauerten - trotz des angeblichen Waffenstillstands. Solche "Waffenstillstände" dienen in erster Linie dazu, die diplomatische Front mit Hoffnungen und Erwartungen zu beschäftigen, so dass die Amerikaner davon abgehalten werden, mehr zu tun als nur verbal gegen die Bombardierungen der Zivilbevölkerung durch die russische und die syrische Luftwaffe zu protestieren.