Die Wähler selbst erklärten, dass sie dies immer gewusst hätten. Natürlich wäre es unklug gewesen, in vorrevolutionären Zeiten darüber zu sprechen. Sie sagten fast einstimmig, sie würden zum ersten Mal in ihrem Leben wählen.
Vorher habe es keine wirkliche Wahl gegeben. Die Stimmbeteiligung in den Zeiten Hosni Mubaraks hatte sich vielleicht um 20 Prozent herum bewegt. Auch zu sprechen, war damals unklug, und die Regierung gab einfach höhere Zahlen an. Die Zeitungen druckten ab und das Fernsehen strahlte aus, was die Regierung erklärte. Doch erst heute wird offenbar, wie wenig die Ägypter diesen Behauptungen Glauben geschenkt haben. Diesmal war die Beteiligung über 62 Prozent. Ihre Stimme sei diesmal von Bedeutung, sagten die Wähler, und sie seien glücklich, auch einmal mitbestimmen zu dürfen.
Die Armee schützt die Wahlen
Die Armee setzte all ihre Mittel ein, um einen glatten Ablauf der Wahlen zu fördern. Die Soldaten lächelten in den Wahllokalen und bemühten sich sogar, älteren Wählern Bänke zum Ausruhen anzubieten. Es gab Wahlhelfer, die zur Verfügung standen, um den Stimmenden zu helfen, die gewaltigen Bogen Papier auszufüllen, auf denen sie in manchen Wahlkreisen unter rund 70 Kandidaten auf den Parteilisten und über 130 Bewerber in den einzelnen Wahlkreisen ihre Auswahl zu treffen hatten.
Wobei die Hälfte der zu Wählenden nominell "Arbeiter" und "Bauern" sein mussten. Das heisst, Leute, die als solche qualifiziert waren, weil sie staatlich anerkannten Gewerkschaften oder Berufsverbänden angehörten. Auch Grundbesitzer, grosse und kleine, - unter ihnen sind viele pensionierte Armeeoffiziere - können als Bauern eingestuft werden.
Die erste von vielen Etappen
Nur ein Teil Ägyptens hat bisher gewählt - jedoch ein wichtiger Teil des Landes, der Kairo und Alexandria umfasst und die nördliche Hälfte des Niltals bis hinauf nach Assiut. Zwei weitere Zonen werden in den kommenden Wochen noch wählen, die letzte am 3. und 4. Januar. Dann folgen noch Stichwahlen für die individuellen Wahlkreise, die ein Drittel der Versammlung zu stellen haben. Sie sollen auch in drei Etappen bis zum 11. Januar stattfinden.
Danach wird ein neuer Wahlprozess beginnen, bei dem es um die Wahl des Oberhauses geht, das Senat genannt wird. Sie werden sich bis Anfang März hinziehen.
Auch in den Wahlbezirken, die nun gewählt haben, sind die Wahlen noch nicht zu Ende. Ein Drittel der zu wählenden 498 Abgeordneten des Unterhauses wird auf Grund von individuellen Kandidaturen gewählt, und in fast allen der individuellen Wahlkreise müssen noch Stichwahlen stattfinden, weil anscheinend nur drei Kandidaten im ersten Wahlgang das absolute Mehr erreicht haben.
Noch keine Resultate, nur Schätzungen
Resultate gibt es infolge dessen noch keine. Jene der Listenwahlkreise sollen nach den neuesten Aussagen nicht bekannt gegeben werden, bis überall die Wahlen stattgefunden haben, und jene der individuellen Wahlkreise hängen fast überall noch in der Schwebe.
Trotzdem gibt es "provisorische Resultate", über die weltweit berichtet worden ist. Sie sind blosse Schätzungen und stimmen mit dem überein, was Beoachter schon vor den Wahlen erwartet hatten. Die Muslimbrüder scheinen das beste Ergebnis erzielt zu haben, vielleicht 30 bis möglicherweise 35 Prozent der Stimmen, die salafistischen Gruppen das zweitbeste, möglicherweise 20 Prozent.
Verwirrende Vielfalt der Parteien
Die liberalen und säkularen Gruppierungen sind aufgespalten in gegen 35 Parteien, von denen sich einige in drei unterschiedlichen Bündnissen zusammenfanden, jenem der Bürgerlichen und Rechten, zu denen auch viele der heute noch reichen und früher sehr einflussreichen Mitglieder der aufgelösten Staatspartei Mubaraks gestossen sind; dem Lager der Progressiven und Revolutionäre sowie schliesslic h jenem der alten Linkskräfte aus der "sozialistischen" Zeit Abdel Nassers.
Doch andere Parteien ziehen ohne Bündnis, d.h. heisst ohne Listenverbindungen, alleine in den Wahlkampf. Dieses stark zersplitterte säkulare Lager, mit einem Spektrum von extrem links bis extrem rechts, umfasst offenbar rund die andere Hälfte der Wähler.
Wird die Begeisterung andauern?
In den ländlichen Regionen des Deltas, die noch wählen müssen, könnte sich dieses grobe Gesamtbild möglicherweise weiter zu Gunsten der islamischen Kräfte, Brüder und Salafiya, verschieben.
Wie bei jedem Marathon könnte das Bild zu Beginn des Rennens anders ausfallen als jenes, das sich am Ziel ergibt: Begeisterter, optimistischer Massenstart am Anfang, und zum Umsinken erschöpfte, mit grossen Abständen eingetroffene Läufer am Ziel.
Welche Vollmachten für die Versammlung?
Gewählt wird eine Versammlung (Parlament oder Verfassungsversammlung?), deren Aufgaben und Kompetenzen so vage umschrieben sind, dass sie als unbestimmt gelten müssen. Aus der Versammlung wird ein Verfassungsausschuss von 100 Personen bestimmt werden (wie, bleibt ungewiss), von denen die Militärs möglicherweise 80 ernennen wollen und zwar nicht notwendigerweise aus der Zahl der Gewählten. Ob die Versammlung noch andere Kompetenzen erhalten wird oder nicht, wie lange sie bestehen wird, ob sie eine Regierung ernennen oder entlassen kann oder nicht, ist alles noch schemenhaft.
**Der Schatten des "Leitdokumentes"
Die Ungewissheiten, die schon vorher bestanden, sind unmittelbar vor den Wahlen verstärkt worden, weil Äygptens Offiziere auf dem Umweg über die zwar zurückgetretene, aber noch amtierende Regierung einen Vorschlag für "konstitutionelle Leitlinien" produzierten, von denen heute ungewiss ist, ob und wie weit sie für die gegenwärtig zu wählende Versammlung verbindlich sein werden.
Es kommt vor, dass irgendein leitender Offizier, Mitglied von SCAF, dem Obersten Kommando der Streitkräfte, Erklärungen abgibt, die möglicherweise verbindlich sein könnten: zum Beispiel, die kommende Verfassungsversammlung werde kein Recht haben, eine Regierung zu entlassen, welche die Militärs eingesetzt hätten.
Nach Ansicht der Militärs soll offenbar die gegenwärtige wolkige Allmacht der Militärführung andauern, bis ein Präsident Ägyptens gewählt sein wird, Versammlung hin oder her.
Der Ausnahmezustand bleibt bestehen
Auch der mit guten Gründen verhasste Ausnahmezustand soll bis dahin dauern. Auf Grund dieses Zustandes sitzen gegenwärtig gegen 12 000 Zivilisten in den Gefängnissen, teils ohne Verurteilung und teils abgeurteilt durch Kriegsgerichte. Manche sind wegen Vergehen wie "Unruhestiftung" oder "Kritik an den Streitkräften" inhaftiert.
Die entscheidende Präsidentenwahl, nach welcher die Offiziersjunta ihre Macht an die zivilen Behörden abtreten sollte, war zuerst auf Anfang 2013 vorgesehen. Nun soll sie, als Konzession des SCAF gegenüber den Demonstranten vom 21. November, auf April 2012 angesetzt werden. Obwohl es bis dann noch keine Verfassung geben wird.
Wahl eines *provisorischen Präsidenten" im Frühling?
Wird Ägypten also im kommenden Frühling nach dem Wahlmarathon für die Versammlung in einer weiteren Wahl einen "provisorischen" Präsidenten wählen, dessen verfassungsmässige Rolle unbestimmt bleibt? Könnte es sein, dass er ein General wäre? Möglicherweise Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, der gegenwärtige Chef der Junta?
Die Diskussion über die zu schreibende Verfassung kann erst im kommenden Frühling beginnen, wenn die Versammlung endgültig gewählt sein wird. Sie soll in sechs Monaten zu einer Verfassung führen. Wenn nicht, so sagen die Militärs, könnten sie aus eigener Vollmacht eine neue Verfassungskommission ernennen, die dieser Aufgabe nachkäme.
Doch bis bis zum Ende der Wahlperiode und während die Verfassungsdiskussion andauert, wird noch viel Wasser den Nil hinab und in die Mühlen der ägyptischen Militärmachthaber fliessen.
Versammlung gegen Militärkommando?
Die grosse Unsicherheit bezüglich Zweck und Vollmachten der zu wählenden "Verfassungs-" Versammlung macht unvermeidlich, dass nach den Wahlen, wenn sie einmal zum Abschluss gelangt sein werden, ein Machtringen zwischen dem SCAF und der Versammlung stattfinden wird. Dabei wird viel davon abhängen, wie geeint oder wie gespalten diese Versammlung gegenüber den Militärs auftreten wird.
Die Wahlen sind so angelegt, dass die Versammlung notwendigerweise stark zersplittert sein wird. Die Teilung in proportionale und individuelle Wahlkreise dürfte dies garantieren. Sie ist wahrscheinlich aus diesem Grund vom SCAF durchgesetzt worden.
Rivalität zwischen Muslimbrüdern und Salafisten
Die einheitlichsten Kräfte in der Versammlung werden die muslimischen Gruppierungen sein. Doch auch unter ihnen sind starke Spannungen zu gewärtigen. Die Salafisten und die Muslimbrüder sind schon heute Rivalen um die Macht im Staate, und ihr Islamverständnis ist unterschiedlich.
Vorläufig erklären die Brüder, sie gedächten eher mit einer oder mehreren der weltlichen Parteien zusammenzuarbeiten als mit den Salafisten. Doch die endgültigen Aktionsbündnisse werden auch vom Grad der Bereitschaft der säkularen Partner abhängen, als Juniorpartner mit den Muslimbrüdern zusammenzuarbeiten.
Erst wenn die gesamte Versammlung gewählt und ihre genaue Zusammensetzung bekannt sein wird, können realistische Verhandlungen der Parlamentarier - falls sie als solche tatsächlich handeln können - über mögliche Aktionsbündnisse und Regierungskoalitionen beginnen.